Volltext: Der Naturarzt 1886 (1886)

Der Reichskanzler und seine Krankheit. 
Von Karl Griebel in Meran.* 
Bekanntlich ist des „eisernen" Kanzlers Gesundheit nichts weniger als 
„eisern"; sie gab sogar vor nicht allzulanger Zeit Veranlassung zu ernster 
Besorgnis. Seit mehr als 30 Jahren leidend, dabei stets die größten Arbeiten 
verrichtend, gedieh dem Fürsten seine Krankheit, genährt durch reichlichen 
Ärger, vielfache Nörgeleien von Seiten aller benagenden kleinen und größeren 
Geister bis zur Hochgradigkeit; alle Medikamente, alle Kuren erwiesen sich als 
erfolglos. Die Natur läßt sich eben nicht in Systeme zwingen, sondern arbeitet 
nach alten unabänderlichen Gesetzen; wer diese Gesetze zu ergründen, am ge 
treuesten zu befolgen sich bemüht, dem wird der Erfolg nie fehlen. Zu letzteren 
zählt der wackere Professor Dr. Oertel in München. Zwar ist dessen Kur- 
methode noch lange nicht naturgemäß, wie wir später sehen werden, doch hat 
sie den großen Vorzug, daß sie fast ganz ohne Medizin arbeitet und die bisher 
übliche, auf Gewichtzunahme abzielende „Mästungstheorie" gänzlich ver 
wirft, dafür aber Mäßigkeit und Bewegung empfiehlt und gerade dieser Um 
stand. ermöglichte, dem Professor Dr. Schweninger, einem Schüler des 
Professor Dr. O e r t e l. der Krankheit des Reichskanzlers Stillstand zu ge 
bieten , sogar einen gewissen Grad von Besserung anzubahnen. Gesund ist 
Fürst Bismarck indeß noch lange nicht und vielleicht erst nach Jahren wird 
Genesung annähernd erzielt werden können, denn eine Krankheit, die zu ihrer 
Entstehung fast ein halbes Jahrhundert bedurfte, kann unmöglich in 6 oder 
18 Monaten geheilt werden. Der Charakter der Leiden des Fürsten ist be 
kannt: Hochgradige Nervenerkrankung in Begleitung von Schmerz erzeugenden 
Blutstauungen — N eu r a l g i e bezeichnet ihn die klinische Terminologie; und 
der Alltagsmensch denkt sich bei dieser Bezeichnung um so weniger, je öfterer 
er dieselbe vernimmt, meint auch gewöhnlich, daß Nervenkrankheit gar nicht viel 
auf sich habe, da ja doch das Aussehen solcher Kranken meist ein sehr gutes 
ist. Die ganze Furchtbarkeit derselben in ihren verschiednen Stadien ist nur 
demjenigen klar, der sie an sich selbst erlebt hat, in welcher Lage Schreiber 
dieser Zeilen sich befand. Daß der Reichskanzler fast alle Stadien dieser ent 
setzlichen Krankheit durchlebt, hierfür sprechen alle uns zur Kenntnis gekommenen 
Momente, daß er aber trotz aller Qualen, Schmerzen, Beängstigungen, die den 
Tod. in seiner grausamsten Gestalt ahnen lassen. treu auf seinem verantwor 
tungsreichen Posten verblieb, zeugt von einer Willen-kraft, von einer Größe 
des Charakters, die nur von der aufrichtigsten Liebe und Treue für das Vater 
land-und für seinen Monarchen eingegeben werden konnte. Hätten des Kanzlers 
politische Gegner auch nur einen Blick in das Innere dieses schwergeprüften 
Helden werfen können, der. häufig scheinbar gesundheitsstrotzend und doch den 
Tod im Herzen tragend, ihnen gegenüber stand, sie würden Anstand genommen 
haben. die meisten seiner in langen schlaflosen Nächten reiflich durchdachten 
Licblingsideen eigensinnig zu bekämpfen, durch vielfache Nörgeleien und unbe 
dachte. Kränkungen die ohnehin hoch erregten Nerven des schwer erkrankten 
Mannes aufs Höchste zu gefährden. Hoffentlich ist die schwerste Zeit der Prü 
fungen jetzt vorüber. Der Fürst, im Laufe langer Jahre einsehend, daß in 
Krankheitsfällen keine „Kunst", wenn selbst von den größten Autoritäten geübt, 
etwas vermag, hat sich endlich entschlossen, den einzig zuverlässigen Leibarzt 
- * Zuerst erschienen in der „Meraner Zeitung" und auf Wunsch des Verfassers hier abge 
druckt mit Nachwort von mir. Qt. W.
	        
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