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Zwei Gegenstücke ;u Prot. Snckens Rrankheits-Geschichte
nämlich:
Ebenfalls allopathisch ausgegeben und physiatrisch gerettet.
Vom Herausgeber. (Fortsetzung.)
Nachdem mir bei meinem Besuch um 11 Uhr diese „Obermedizinalrätliche"
Visite mitgeteilt worden, nahm ich weiter keine Notiz davon, sondern führte
meine Patientin an ihr Clavier. öffnete es und lud sie ein. mir ein beliebiges
Stückchen, gleichsam ihren A u f e r st e h u n g s m a r s ch zu spielen; sie zögerte
keine Minute, setzte sich und fing an zu spielen, doch nach kurzer Zeit schon
erklärte sie mir: es gehe noch nicht so wie früher, namentlich die Finger der
rechten Hand genirten sie beim Anschlag rc.; im weiteren Verlauf des Ge
spräches klagte sie mir ferner noch, daß ihr die Hauptwörter so schwer ein
fallen, ja so eigentümlich sei es, daß sie oft recht wohl ein Wort wisse, das
sie gerade brauche, dasselbe aber eben nicht aussprechen könne, bevor sie es
nicht gedruckt oder geschrieben gesehen oder man es ihr vorgesagt habe! Ich
machte ihr nun begreiflich, wie dieser fatale Umstand mit der Verwundung
ihres Gehirns beim apoplektischen Insulte durch Zertrümmerung von Nerven
zellen zusammenhänge, daß sie sich aber wohl der Hoffnung überlassen dürfe,
daß auch in dieser Beziehung mit der Zeit noch einige Besserung, vielleicht
sogar der frühere Zustand wieder vollständig eintreten werde; sie solle nur
meine weiteren Verordnungen pünktlich befolgen und zufrieden sein, in der
kurzen Zeit von 9 Tagen bereits soviel erreicht zu haben, wo ihr alter Medi
kus sie ja schon als verloren, mindestens für zeitlebens gelähmt be
trachtet habe!
Meine weiteren Verordnungen für die nächsten 4 Wochen bestanden nun
in folgendem: Jede Nacht dreiviertel Einpackung mit lauem Halbbad am
anderen Morgen, darauf 1—2 Stunden ins Bett zurück. wo nüchtern ein
Glas Wasser getrunken, später auch das Frühstück genommen wurde; nach
9 Uhr Aufstehen, Ankleiden und Aufbleiben, nach 10 Uhr ein kühles Klystier,
nach erfolgter Öffnung ein zweites kleineres zum Behalten, resp. Aufsaugen.
Um 11 Uhr Promenade im Freien, wobei immer jemand zur Begleitung mit
gehen solle, damit Patientin von Bekannten auf der Straße nicht soviel mit
Fragen belästigt werden könnte, auch weil man ja nicht sicher war, ob ihr
sonst nicht etwas passirte. Eine Stunde nach dem Mittagessen, welches echt
bürgerlich aus Suppe, Gemüse und Fleisch, an einigen Tagen aus Mehlspeise
und Compot bestand, ließ ich Patientin in ihrem Schlafzimmer im Lehnstuhl
bei offenem Fenster ein Schläfchen von einer Stunde machen, mindestens aber
sich darin ruhig verhalten, darauf Spaziergang im Freien; an 3 Tagen in
der Woche aber noch 14 Tage lang eine feuchte Ganz einpackung
von ca. I siz—2 Stunden mit darauffolgendem Halbbad. Nachts von 10 Uhr
an dann die dreiviertel Einpackung. Nachtwache unterblieb jetzt; da die
Schwester der Patientin ja im gleichen Zimmer schlief. Vom Mai an, also
von der 6. Woche an, ließ ich bloß noch feuchten Rumpfumschlag über Nacht
mit morgendlicher Abwaschung des ganzen Körpers und vor Schlafengehen
ein kaltes Fußbad (14°) von 15 Min. Dauer nehmen und wöchentlich in einer
Badeanstalt 1—2 mal ein laues Wannenbad, bestand auch darauf, daß
Patientin Tag für Tag mindestens einmal eine Stunde lang sich ins Freie
begebe. Ich hätte Patientin gern noch länger, namentlich bei dem kalten un
freundlichen Sommer, teils nachts dreiviertel-, teils bei Tage ganze Packungen
nehmen lassen, weil, so oft ich sie besuchte, sie immer kalte Hände und Füße