Volltext: Der Naturarzt 1868 (1868)

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eigeführte lerre Raum muß ausgefüllt werden. Dies 
jeschieht durch eine reichlichere Ausschwitzung der Cere— 
rospinal- (Hirn- und Rückenmark-) Flüssigkeit, diese Aus— 
chwitzung wieder auf Kosten der wässerigen Bestandtheile 
»ꝛes Blutes in den Gefässen. An andern Stellen (so im 
stückgrathskanale, der mehr als jeder andere Körpertheil 
ahlreiche verflochtene Netze dünnwandiger und ausdehn— 
‚arer Venen hat) erweitern sich die Blutgefässe und deh— 
ien sich aus, die entstandene Leere zu füllen, lauter Mo— 
nente, welche die Cirkulation im Gehirn hemmen und 
eiinen Druck auf die graue Rindensubstanz der vordern 
Hehirnhalbkugeln als dem Sitze des logischen, folgerichti— 
gen Denkens hervorrufen, und so indirect namentlich die 
ils Melancholia attonita bekannte Form des Irrseins 
»ewirken, welche auch Etoe Dumarzy auf Hirnödem 
wässerige Entartung des Gehirns) zurückführt. Im All— 
gemeinen ist man zu der Annahme berechtigt, daß 
zäufige reichliche Aderlässe die mehr akute aktive 
Form der Geisteskrankheit in die chronische pas— 
sive (Blödsinn) überführen. (Man nimmt dem Or— 
ganismus mit dem Blute die Lebens-, die Naturheil-, die 
Widerstandskraft, den Krankheitsproceß im Hirn- und 
Heistesleben zu akutem Heilausgang zu führen. Der 
derausgeber.) 
Aehnlich lautet die Ansicht Esquirols, welcher über 
diesen Punkt die sehr beachtenswerthen Worte sprach: 
„durch die ersten Symptome erschreckt, mißhandelt man 
den Kranken durch reichliche und oft wiederholte Aderlässe, 
ind raubt so der Natur die Kraft, um das Uebel zu 
entscheiden. Diese Aerzte wissen nicht, daß der 
Arzt nicht heilt, daß er nur der Diener der Na— 
zur sein soll und daß seine Aufgabe darin be— 
teht, die Hindernisse zu beseitigen, die den Gang 
der Krankheit stören könnten, und den Kranken 
in die Lage zu bringen, daß er die kritischen An— 
strengungen der Natur ertragen kann.“ 
Ebenso wenig läßt sich die Wirkung des Opiums be— 
rechnen, mit dem man Ruhe und Schlaf erzwingen zu 
önnen wähnt. „Auf diese Schlaflosigkeit muß der Arzt 
mmer achten. Ihr Vorhandensein weist auf eine 
tarke Hirnreizung hin, und es würde sehr ver— 
kehrt sein, wenn man mit Opiaten eingreifen 
wollte, wodurch nur die Congestion und der Blut— 
andrang zum Gehirn gesteigert würden.“ 
Es ist schon, wie gesagt wurde, nicht unwahrscheinlich, 
daß der Ausgang der Geisteskrankheit in Blödsinn und 
der raschere Eintritt zunehmenden psychischen Verfalls über— 
haupt, wie durch unüberlegte übermäßige Blutentziehun— 
zen, so durch übermäßige Gaben Opiums und seiner Prä— 
barate herbeigeführt wird. Ich sah in kurzer Frist un— 
zlaubliche Mengen dieses Medicaments verabreichen. Es 
vurde kein Schlaf, wohl aber eine Reihe lästiger 
Opium-Symptome erzeugt: Appetitlosigkeit und 
Brechneigung, Kopfschmerz und Schwindel, Tro— 
kenheitsgefühl im Schlunde und — was die Haupt— 
sache — Verunreinigung des ganzen Krankheitsbildes. 
Auch dies war schon Esquirol bekannt. „Die Narko— 
tika — sagt er — sind mehr schädlich als heilsam,*) 
*) Wir meinen freilich, sie seien überhaupt nicht heilsam, sondern 
immer und absolut schädlich. Der Herausgeber. 
hesonders wenn Plethora (Vollblütigkeit) oder Congestio— 
nen zum Kopf vorhanden sind.“) 
Verlassen wir jetzt die medicamentöse Behandlung, 
durch die im Allgemeinen viel mehr gesündigt, 
als gut gemacht worden ist, und wenden wir uns 
vpieder zu der psychischen, die natürlich bei Erkrankung 
der Psyche die Hauptrolle spielen wird. Wir sind, Gott 
ei Dank, nicht mehr in dem rohen Zeitalter, wo man 
den Irren gleich wilden Bestien oder tollen Hunden be— 
segnete und dieselben wie schwere Verbrecher an Ketten 
hloß und ihre ohnedies elende Existenz nur noch bejam— 
nernswerther machte. Ueberall regt sich das Mitleid und 
zie Humanität, dafür zeugen die Verbesserungen alter 
Zeilanstalten und die Errichtung zweckmäßiger neuer. 
Allein man darf auch in dieser Beziehung übertriebenes 
Mitgefühl nicht aufkommen lassen. Das heißt: es wäre 
'alsch, wenn man die Exceesse der Geisteskranken, weil 
ziese unzurechnungsfähig sind, ruhig wollte hingehen las— 
en; wenn man denen, die reich und vermögend sind, 
Alles zukommen ließe an Genüssen, wonach sie sich sehnen; 
ꝛs wäre falsch, ihren Wunsche, Verwandte oder Bekannte 
zu sehen oder zu ihnen zurückzukehren, jeder Zeit nach— 
zukommen; es wäre eine schlechte Behandlung, wenn man 
hren verkehrten Geistesäußerungen, weil sie krankhaft 
ind eingewurzelt sind, ihren Illusionen und Hallucina— 
ionen **) frei die Zügel schießen ließe, ohne die noch 
»orhandenen Spuren logischen Denkvermögens, die weni— 
gen gesunden geistigen Elemente zu sammeln, gleich einem 
zuten Feldherren, der auch nach vollständiger Niederlage 
den Rest seiner geschlagenen Mannschaft nicht verzweifelnd 
oreisgiebt, sondern zu neuer Action concentrirt. Mancher 
Beisteskranke würde noch in den engen Zellen des Irren— 
Jauses schmachten, wenn er nach den Angaben einer senti— 
nentalen, verzärtelnden Mutter behandelt worden wäre 
aund nicht nach den strengen rücksichtslosen Grundsätzen 
üchtiger Psychiater (Irrenärzte), für welche ein Unter— 
chied des Standes nicht existirt. Der behandelnde Irren— 
arzt darf nie vergessen, daß er es mit Individuen zu 
hun hat, deren geistiges Fassungsvermögen dem der Kin— 
der gleich zu stellen ist.“ Auch die letztern leiden z. B. 
an zahlreichen Illusionen. So ist es ja reine Illusion, 
wenn sie, wie wohl von jedem Kinde geschieht, beim Be— 
schauen eines Bildes dieses Portrait für Papa und jenes 
zür Mama u. s. w. halten. Wie aber den Kindern die 
Zurechnungsfähigkeit nicht absolut abgesprochen werden 
darf, so ist es auch mit Irren. Sie begehen tausenderlei 
Unfertigkeiten, für die sie recht wohl zur Verantwortung 
zezogen werden sollen. Von der Geschicklichkeit des Arztes 
hängt es ab, ihre Handlungen zu scheiden in rein krank— 
hafte und in solche, die mehr der Ausfluß eines gewissen 
Starrsinnes, einer gewissen Selbstsucht oder berechnenden 
Böswilligkeit sind. Die Geisteskranken müssen da— 
her wie die Kinder erzogen werden, bald mit 
*) Wer sich näher für den Gegenstand interessirt, dem empfehlen 
wir: „De opii in morbis psychicis usu.“ Julius Weber. Jenae. 
x*x) Ueber den Unterschied dieser beiden Arten von Sinnestäu— 
schungen ist zu bemerken, daß die Illusionen verkehrte Deutungen 
eines“ wirklichen stattgefundenen äußeren Sinnesreizes sind, die Hal— 
ucinationen dagegen auf rein inneren Hirnreizungen beruhen, aber 
jom Kranken als wirklich stattgefundene äußere Sinnesreize gedeutet 
perden. Der Herausgeber.
	        
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