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ginnender geistiger Störung zu suchen, so muß der Be—
treffende um jeden Preis herausgerissen werden, und der
oft wunderbare Einfluß, den fremde Elemente auf das
Gemüth des Kranken ausüben, bleibt nie aus. Alle Liebe
und Pflege der Umgebung, alles Abhalten neuer schäd—
licher Einwirkungen, alles Eingehen auf den Willen des
Patienten ersetzt nicht die einfache Vorsichtsmaßregel des
Wechsels seines Aufenthalts. Dies gilt namentlich
dann, wenn die Krankheit bedrohliche Fortschritte macht.
Die an das Wort Irrenanstalt geknüpften Vorurtheile
müssen fallen, wenn es gilt, den offenbar geistig Gestörten
gut unterzubringen. Der sogenannte Heilinstinkt, der es
dem Menschen wie dem Thiere besser als ein studirter
Arzt sagt, hier suche Hülfe! spricht sich nirgends deutlicher
aus, als in der Thatsache, daß die meisten Irren gleich
von Anfang an sich mit dem Aufenthalt in gut einge—
richteten Anstalten auszusöhnen pflegen. Wie unzählige
Male hatte ich in meiner Stellung als Assistenzarzt Gele—
genheit, dies zu beobachten. Irre, welche an Händen und
Füßen gebunden eingeliefert wurden, und die laut dem
beigeschickten ärztlichen Zeugniß die größesten Rohheiten
und gemeingefährlichen Gewaltthaten verübt, zeigten sich
plötzlich sanft wie ein Lamm, schlossen sich gern den näch—
sten Krankheiten an, hielten es für empfindliche Strafe,
nicht mit dem übrigen Theil der ruhigern Gesellschaft in
Verkehr treten zu dürfen. Der Kranke fühlt, daß er gut
pufgehoben, gerecht und richtig behandelt wird, und dies
flößt ihm ein zur weiteren Heilung so nothwendiges Ver—
trauen ein.
Andere Kranke, welche hätten beurlaubt werden kön—
nen, baten um Verlängerung ihres Aufenthaltes.
Esquirol schreibt: „Ich sah in der Salpetrière mehre
Frauen, die nur im Hospital verständig waren, und die,
sobald sie sich bei ihrer Familie befanden, sehnlichst baten,
wieder in die Anstalt zu treten, da sie fühlten, daß ihr
Delirium wieder beginne.“
Sollte aber auch mit dem Aufenthalte Widerwille
verknüpft sein, so darf dies weder den Arzt, noch die
Angehörigen bestimmen, eine Veränderung vorzunehmen.
Gewissenlos verwahrlost werden die Kranken, welchen
man zu viel Freiheit läßt, d. h. ihrem Belieben anheim—
giebt, wo sie leben wollen. Es ist damit durchaus nicht
gesagt, daß gutmüthige oder mit ersten Spuren oberfläch—
lichen Irreseins Behaftete sofort in eine förmliche Anstalt
müßten, aber aus den bisherigen, die Krankheit erzeugen—
den und nährenden Einflüssen und Verhältnissen müssen
sie herausgerissen werden, sollte auch ihr materielles In—
teresse und Wohl darunter leiden.
Wir haben also gesehen, daß wer sich schützen will
der Gefahr, geisteskrank zu werden, berücksichtigen
muß:
Erstens eine möglichst gleichmäßige Entwicklung der
Gehirnfunktion (Geistesanlagen). So wie der Geist in
einseitigen Richtungen übertrieben thätig ist, entsteht
schon die Neigung zu einem verkehrten Leben der Seele;
am gefährlichsten ist es, wenn die sogenannten
niedern Triebe, die der Mensch mit dem Thiere
gemein hat (die der rein sinnlichen, leiblichen
Genußsucht) die Oberhand gewinnen und auf ihre
Kosten die seelischen Kräfte verkümmern.
Zweitens die Wahl und Ausübung eines Berufes, der
das Bewußtsein erzeugt, die eigenen und die Interessen
der Mitmenschen zu fördern. Ein Beruf,mit Ver—
leugnung und Hintansetzung des allgemeinen
Wohles, ein stetiges Streben und Jagen nach
selbstsüchtiger Bereicherung wird vielmehr die
Ursache einseitiger Functionsäußerung des Gei—
stes und so ein bedenklicher Keim wirklicher Gei—
steskraänkheit.
Drittens die Wahl des Aufenthaltes und die damit
verknüpfte Zufälligkeit der Verhältnisse. Die bloße Nei—
gung, geisteskrank zu werden, kann oft nur noch erstickt
werden durch einen raschen Wechsel der Wohnung, durch
eine Verlegung des Wohnsitzes in eine Gegend, welche
Verhältnisse birgt, die den früheren krankmachenden ent—
gegengesetzt sind.
Aber ein vierter wesentlicher Schutz ist noch nicht er—
wähnt worden; worin derselbe besteht, wird aus den fol—
genden Worten hinlänglich klar hervorgehen: Man würde
sehr irren, wenn man mit manchen Autoren die eigent—
liche ursprüngliche Quelle und Ursache der Krankheit im—
mer im Gehirn suchen wollte. Denn dieses steht ja in
engster Beziehung zum übrigen Körper, und der Einfluß,
den viele Organe auf das Gehirn üben, ist deutlich ge⸗
nug; brauche ich doch nur daran zu erinnern, daß durch
Störung der Verdauung oder durch eine reichliche Mahl—
zeit das Gefühl der Unlust, eine Trägheit und Herab—
stimmung des Denkens hervorgerufen werden kann. Noch
bestimmter drückt ein lateinisches Sprüchwort die Abhän—
gigkeit von Körper und Geist aus: «In sano corpore sana
mens» (im gesunden Körper ein gesunder Geist). Und der
wechselseitige Einfluß des einen auf den andern ist so groß,
daß man mit Recht ein passendes Eintheilungsprinzip der
Geisteskrankheiten darin gefunden hat und zwei große
Gruppen unterscheidet, die gemeine oder idiopathische
Seelenstörung (deren Ursache vom Geistes- oder Seelen—
leben ausgeht), und die sympathische, vom Körper und
seinen verschiedenen Organen ausgehend. So kann ein
anhaltender, durch rein geistige Verhältnisse hervorgeru—
fener Kummer ebenso zu einer wirklichen Geisteskrankheit
führen, wie ein quälendes Körperleiden. — — —
Indeß ergiebt sich auch wieder die theilweise Unabhän—
gigkeit der Seele vom Körper, bei gleichzeitiger Zusam—
mengehörigkeit, aus dem gesundmachenden Einfluß der—
selben auf physische Leiden, in Augenblicken, wo die Seele
durch irgend welche Ereignisse, z. B. einen plötzlichen, auf—
.„,Kein Beruf bewahrt mehr vor solchem gefährlichen, Geistbe—
schränkenden und Herzverhärtenden selbst- und genußsüchtigem Jagen
und Streben, keiner schützt besser bei Disposition zur Geisteskrank—
heit vor dem Ausbruch derselben und keiner heilt beffer diefelbe,
venn sie ausgebrochen, als der des Landwirthes. Man habe da
aicht blos den taglöhnernden, stumpffinnig maschinenmäßig heute
flügenden, morgen säenden Ackerbauer im Auge, sondern fasse ihn
oon einem höherem Standpunkte auf, von welchem aus der Land—
wirth berufen ist, die Erde zu verjüngen und zu verschönern und
mit dem Fruchtsegen reicher Erndien auch den edlerer Sitte und
Bildung in das Volk ganzer, weiter Bezirke und Provinzen zu tra—
gen. Den Nutzen der indes auch blos mehr leiblichen, koͤrperlichen
Arbeit bei herannahender Geisteskrankheit erfieht man aus der Krank
heitsgeschichte in des Herausgebers Prakt. Handbuch, 2. Aufl., II
Abth., S. 49 u. folg. 2
Der Herausgeber.
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