Volltext: Der Naturarzt 1868 (1868)

148 
ginnender geistiger Störung zu suchen, so muß der Be— 
treffende um jeden Preis herausgerissen werden, und der 
oft wunderbare Einfluß, den fremde Elemente auf das 
Gemüth des Kranken ausüben, bleibt nie aus. Alle Liebe 
und Pflege der Umgebung, alles Abhalten neuer schäd— 
licher Einwirkungen, alles Eingehen auf den Willen des 
Patienten ersetzt nicht die einfache Vorsichtsmaßregel des 
Wechsels seines Aufenthalts. Dies gilt namentlich 
dann, wenn die Krankheit bedrohliche Fortschritte macht. 
Die an das Wort Irrenanstalt geknüpften Vorurtheile 
müssen fallen, wenn es gilt, den offenbar geistig Gestörten 
gut unterzubringen. Der sogenannte Heilinstinkt, der es 
dem Menschen wie dem Thiere besser als ein studirter 
Arzt sagt, hier suche Hülfe! spricht sich nirgends deutlicher 
aus, als in der Thatsache, daß die meisten Irren gleich 
von Anfang an sich mit dem Aufenthalt in gut einge— 
richteten Anstalten auszusöhnen pflegen. Wie unzählige 
Male hatte ich in meiner Stellung als Assistenzarzt Gele— 
genheit, dies zu beobachten. Irre, welche an Händen und 
Füßen gebunden eingeliefert wurden, und die laut dem 
beigeschickten ärztlichen Zeugniß die größesten Rohheiten 
und gemeingefährlichen Gewaltthaten verübt, zeigten sich 
plötzlich sanft wie ein Lamm, schlossen sich gern den näch— 
sten Krankheiten an, hielten es für empfindliche Strafe, 
nicht mit dem übrigen Theil der ruhigern Gesellschaft in 
Verkehr treten zu dürfen. Der Kranke fühlt, daß er gut 
pufgehoben, gerecht und richtig behandelt wird, und dies 
flößt ihm ein zur weiteren Heilung so nothwendiges Ver— 
trauen ein. 
Andere Kranke, welche hätten beurlaubt werden kön— 
nen, baten um Verlängerung ihres Aufenthaltes. 
Esquirol schreibt: „Ich sah in der Salpetrière mehre 
Frauen, die nur im Hospital verständig waren, und die, 
sobald sie sich bei ihrer Familie befanden, sehnlichst baten, 
wieder in die Anstalt zu treten, da sie fühlten, daß ihr 
Delirium wieder beginne.“ 
Sollte aber auch mit dem Aufenthalte Widerwille 
verknüpft sein, so darf dies weder den Arzt, noch die 
Angehörigen bestimmen, eine Veränderung vorzunehmen. 
Gewissenlos verwahrlost werden die Kranken, welchen 
man zu viel Freiheit läßt, d. h. ihrem Belieben anheim— 
giebt, wo sie leben wollen. Es ist damit durchaus nicht 
gesagt, daß gutmüthige oder mit ersten Spuren oberfläch— 
lichen Irreseins Behaftete sofort in eine förmliche Anstalt 
müßten, aber aus den bisherigen, die Krankheit erzeugen— 
den und nährenden Einflüssen und Verhältnissen müssen 
sie herausgerissen werden, sollte auch ihr materielles In— 
teresse und Wohl darunter leiden. 
Wir haben also gesehen, daß wer sich schützen will 
der Gefahr, geisteskrank zu werden, berücksichtigen 
muß: 
Erstens eine möglichst gleichmäßige Entwicklung der 
Gehirnfunktion (Geistesanlagen). So wie der Geist in 
einseitigen Richtungen übertrieben thätig ist, entsteht 
schon die Neigung zu einem verkehrten Leben der Seele; 
am gefährlichsten ist es, wenn die sogenannten 
niedern Triebe, die der Mensch mit dem Thiere 
gemein hat (die der rein sinnlichen, leiblichen 
Genußsucht) die Oberhand gewinnen und auf ihre 
Kosten die seelischen Kräfte verkümmern. 
Zweitens die Wahl und Ausübung eines Berufes, der 
das Bewußtsein erzeugt, die eigenen und die Interessen 
der Mitmenschen zu fördern. Ein Beruf,mit Ver— 
leugnung und Hintansetzung des allgemeinen 
Wohles, ein stetiges Streben und Jagen nach 
selbstsüchtiger Bereicherung wird vielmehr die 
Ursache einseitiger Functionsäußerung des Gei— 
stes und so ein bedenklicher Keim wirklicher Gei— 
steskraänkheit. 
Drittens die Wahl des Aufenthaltes und die damit 
verknüpfte Zufälligkeit der Verhältnisse. Die bloße Nei— 
gung, geisteskrank zu werden, kann oft nur noch erstickt 
werden durch einen raschen Wechsel der Wohnung, durch 
eine Verlegung des Wohnsitzes in eine Gegend, welche 
Verhältnisse birgt, die den früheren krankmachenden ent— 
gegengesetzt sind. 
Aber ein vierter wesentlicher Schutz ist noch nicht er— 
wähnt worden; worin derselbe besteht, wird aus den fol— 
genden Worten hinlänglich klar hervorgehen: Man würde 
sehr irren, wenn man mit manchen Autoren die eigent— 
liche ursprüngliche Quelle und Ursache der Krankheit im— 
mer im Gehirn suchen wollte. Denn dieses steht ja in 
engster Beziehung zum übrigen Körper, und der Einfluß, 
den viele Organe auf das Gehirn üben, ist deutlich ge⸗ 
nug; brauche ich doch nur daran zu erinnern, daß durch 
Störung der Verdauung oder durch eine reichliche Mahl— 
zeit das Gefühl der Unlust, eine Trägheit und Herab— 
stimmung des Denkens hervorgerufen werden kann. Noch 
bestimmter drückt ein lateinisches Sprüchwort die Abhän— 
gigkeit von Körper und Geist aus: «In sano corpore sana 
mens» (im gesunden Körper ein gesunder Geist). Und der 
wechselseitige Einfluß des einen auf den andern ist so groß, 
daß man mit Recht ein passendes Eintheilungsprinzip der 
Geisteskrankheiten darin gefunden hat und zwei große 
Gruppen unterscheidet, die gemeine oder idiopathische 
Seelenstörung (deren Ursache vom Geistes- oder Seelen— 
leben ausgeht), und die sympathische, vom Körper und 
seinen verschiedenen Organen ausgehend. So kann ein 
anhaltender, durch rein geistige Verhältnisse hervorgeru— 
fener Kummer ebenso zu einer wirklichen Geisteskrankheit 
führen, wie ein quälendes Körperleiden. — — — 
Indeß ergiebt sich auch wieder die theilweise Unabhän— 
gigkeit der Seele vom Körper, bei gleichzeitiger Zusam— 
mengehörigkeit, aus dem gesundmachenden Einfluß der— 
selben auf physische Leiden, in Augenblicken, wo die Seele 
durch irgend welche Ereignisse, z. B. einen plötzlichen, auf— 
.„,Kein Beruf bewahrt mehr vor solchem gefährlichen, Geistbe— 
schränkenden und Herzverhärtenden selbst- und genußsüchtigem Jagen 
und Streben, keiner schützt besser bei Disposition zur Geisteskrank— 
heit vor dem Ausbruch derselben und keiner heilt beffer diefelbe, 
venn sie ausgebrochen, als der des Landwirthes. Man habe da 
aicht blos den taglöhnernden, stumpffinnig maschinenmäßig heute 
flügenden, morgen säenden Ackerbauer im Auge, sondern fasse ihn 
oon einem höherem Standpunkte auf, von welchem aus der Land— 
wirth berufen ist, die Erde zu verjüngen und zu verschönern und 
mit dem Fruchtsegen reicher Erndien auch den edlerer Sitte und 
Bildung in das Volk ganzer, weiter Bezirke und Provinzen zu tra— 
gen. Den Nutzen der indes auch blos mehr leiblichen, koͤrperlichen 
Arbeit bei herannahender Geisteskrankheit erfieht man aus der Krank 
heitsgeschichte in des Herausgebers Prakt. Handbuch, 2. Aufl., II 
Abth., S. 49 u. folg. 2 
Der Herausgeber. 
rec 
scht 
R 
mi 
der 
Go 
s 
8 
14 
54 
J/ 
*4 
6 
119 
* 
J 
I
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.