Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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Professor Cannstatt sagt in seinem Patholog. Hand 
buch, es sei ganz charakteristisch für Chorea, daß sie in der 
Mehrzahl der Fälle auch ohne Behandlung nach einer Dauer 
von 6 Wochen bis 3 Monaten in Genesung ende; andern 
falls werde sie habituell, chronisch und durch Ueberreizung 
und Erschöpfung des Nervensystems tödtlich. Allgemeine 
Muskelunruhe heile leichter als die auf wenige Muskeln be 
schränkte. Derselbe Professor sagt ferner: „die Zahl der ge 
gen Chorea empfohlenen Mittel gleiche einem ziemlich voll 
ständigen Kataloge der gesammten materia me- 
di ca und R ufz bemerkte daher sinnreich, ihre Unzahl be 
weise eben nur, daß man die Chorea mit Allem heilen könne. (?) 
Wirklich empfiehlt Lebert in seinem neuesten mediz Haus 
buch vom Jahre 1862 — Wurmmittel, Blutentziehungen, 
Brechweinstein, Quecksilber, yaleriana, Asa fötida, Zinkpräpa 
rate, opium, nux vomica, Arsenik, Schwefelbäder, Blasen 
pflaster und sagt noch Seite 52: sehr beträchtlich wird auch 
die Cur durch die schon früher von englischen Aerzten und 
später vom Pariser Kinderspital aus empfohlene Gymnastik 
unterstützt. Regelmäßige rhythmische Bewegungen der Arme 
und Beine, Gehen, Heben von leichten Lasten, feinere Beweg 
ungen wie Stricken, Schreiben, Clavierspielen (?), wobei man 
an die Willenskraft der Kranken besonders appelliren muß, 
langsames regelmäßiges Athmen, lautes Lesen und Singen, 
mit einem Worte — eine je nach den befallenen Muskelgrup 
pen modificirt angeordnete Regelmäßigkeit in den Bewegungen 
sind stets anzurathen. 
Nach Bock (Buch vom gesunden und kranken Menschen) 
soll die Behandlung nur in Anwendung körperlicher, geistiger 
und geschlechtlicher Ruhe bestehen; ferner in nahrhafter leicht 
verdaulicher (gehörig fett- und salzhaltiger?) Nahrung und 
reiner Luft; durch zweckmäßige gymnastische Uebungen ist 
allmählich die Willensherrschaft im Muskeksystem wieder her 
zustellen. 
Der große Veitstanz, auch Chorea Germanorum ge 
nannt, tritt nicht wie der kleine anhaltend, sondern.pa- 
roxysmenweise (in gesonderten Fällen) auf. Es werden 
bei demselben ganz unwillkürlich, aber gewöhnlich bei vollem 
Bewußtsein, solche zusammengesetzte Bewegungen ausgeführt, 
welche den willkürlich beschlossenen und zweckbewußt ausge 
führten ganz ähnlich sind, nämlich: Herumspringen, Hüpfen, 
Tanzen, Vor- und Rückwärtsgehen, in bestimmtem Kreise 
Herumlaufen, kreiselartiges Drehen oder über Tische, Stühle re. 
Klettern, mit den Armen verschiedentlich Geftikuliren und dazu 
Lachen, Singen, Weinen, Schreien, Nachahmen von Thier 
tönen*). Die Anfälle dauern bald Minuten- bald Stunden 
lang. Auch nach den heftigsten findet keine besondere Ermü 
dung statt, wie man von ähnlichen activen Bewegungen aus- 
zu schließen berechtigt wäre. Die Anfälle kündigen sich ge 
wöhnlich durch allgemeine Reizbarkeit, Unruhe, Aengstlichkeit, 
Abgeschlagenheit, Muskelzittern, Herzklopfen und Athembeklem 
mung an und hinterlassen Schlaf, Schweiß und Abspannung. 
*) Anmerkung. Nach Cannstatt sind die Paroxysmenein wun 
derbares Gemische von klonischen und tonischen, bald Epilepsie-, bald 
Tetanus-, Opisthotonusartigen Krämpfen, ebenso wie von sonderbar 
associirten Bewegungen; „die Kranken tanzen, kriechen aus allen Vie 
ren, geberden sich als wollten sie fliegen, schwimmen, werden fußhoch 
von dem Boden emporgeschnellt, setzen durch die tollsten Sprünge, 
Purzelbäume, durch ausgelassenes Lachen oder Nachahmen thierischer 
Töne ihre Umgebüng in Erstaunen und Entsetzen; ja die krainpfhaften 
Bewegungen scheinen oft allen Gesetzen des organischen Baues zu wi 
dersprechen. Manche sind unwiderstehlich getrieben, vorwärts zu lau 
fen, sich im Kreise Herumzudrehen re. 
Die Sprache ist nicht stammelnd, wie beim kleinen Veitstanz, 
aber oft ist ekstatische Stummheit während der Allfälle zuge 
gen und nach denselben wissen die Kranken gewöhnlich nicht, 
was mit ihnen vorgegangen und was sie getrieben haben. 
Die Zwischenräume zwischen den Anfällen können Tage und 
Wochen dauern, die ganze Krankheit bisweilen Jahre lang 
und hört dieselbe allmälich mit Schwächer- und Seltenerwer- 
dcn der Anfälle aus, nur noch längere Zeit große Nerven 
reizbarkeit hinterlassend. 
Canstatt empfiehlt, nach Beseitigung der akut auftretenden 
Form (Fieber rc.) mittelst Blutentziehungen und Purgantien, 
besonders — Eisen, Arsenik (als das wirksamste Mittel), so 
dann Schwefelbäder. Lebert nennt den eigentlichen großen 
Veitstanz eine räthselhafte, viel complicirte Krankheit und 
wendet bei derselben das Nämliche an wie beim kleinen Veits 
tänze, nämlich einen Mischmasch von Mitteln, nach dem Spruche: 
„Helf, was helfen mag!'" 
Vorstehender Schilderung lasse ich 2 Fälle vom großen 
und 1 vom kleinen Veitstänze folgen, welche sämmtlich 
vorher lange Zeit in medizinischer Behandlung gestanden ohne 
jegliche Spur von Besserung, eher zunehmender Ver 
schlimmerung, bei denen aber meine Behandlung in kurzer 
Frist eine Wendung zum Bessern und schließlich radikale Hei 
lung bis zur Stunde hervorbrachte! — Sapienti sät! — 
Erster Fall vom großen Veitstänze. 
Es war im Januar 1855, als ich bei einer kurzen An 
wesenheit in Stuttgart von einer schon von früher mir bekann 
ten Familie in Geißlingen an der Steige die dringende Auf 
forderung erhielt, bei meiner Rückreise in die Schweiz, welche 
mich an G. vorbeiführte, Halt zu machen und sie zu besuchen, 
indem sie in einem ganz verzweifelten Falle meine Hülfe in 
Anspruch nehmen möchte. Dieser Bitte kam ich gerne nach, 
da ich dieselbe als eine gar wackere Bürgersfamilie 3 Jahr 
früher hatte kennen lernen, bei welcher damals das Samen 
korn einer einfachen ungekünstelten Heilmethode einen frucht 
baren Boden gefunden, und deren Schuld es wahrlich nicht 
war, wenn sie später in Erkrankungsfällen aus Mangel an 
einem Naturarzt ihre Hülse eben wieder beim Doctor und der 
sonach unvermeidlichen Apotheke gesucht hatte. Ich traf eines 
Nachmittags kurz vor 3 Uhr mit dem Bahnzug in G. ein 
und fand vor dem Hause der Familie einen Trupp Leute ver 
schiedenen Alters stehen, welche müßig gafften, horchten und 
schwatzten (was ich im Durchgehen vernahm, lautete: Er hat 
ihn wieder!). Als ich eintrat ins Haus, wurde mir gleich 
klar, was diesen Trupp Leute, Alt und Jung', hier fesselte, denn 
laute, ganz unartikulirte Töne schlugen an mein Ohr und 
zeigten mir den Weg an', wo „was los" war. Ich trat 
zur ersten Thüre ein, wurde von dem mir schon bekannten 
älteren Sohne empfangen und mit wenigen Worten und einer 
Handbewegung auf einen Alkoven hingewiesen, aus dem jene 
menschlichen Mißtöne herkäme::. Wir traten beide zusammen 
ein, ich hatte den Vortritt und um ein Kleines wäre ich als 
bald rücklings niedergefallen, wenn ich nicht hinten gehalten 
worden wäre. Was war die Ursache? Auf einer breiten, 
des Oberbettes beraubten Bettstätte, welche fast ganz den klei 
nen Raum des Alkovens ausfüllte, sah ich den jüngsten fast 
14jährigen Sohn, wie von unsichtbarer Macht getrieben, sich 
herumwälzen, gegen die Wände, deren Bekleidung ziemlich be 
schädigt war, geschleudert, dann wieder etliche Schutz hoch in
	        
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