Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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anderen Kammer zu erwähnen und daran sein eigenes Urtheil 
über die beiderseitigen Meinungen, wie es ihm seine Erfah 
rung und seine Liebe für das gemeinsame Wesen, für das 
Interesse und Wohl Aller, aufnöthigte, in zwar bescheidener, 
aber fester Weise zu knüpfen. Da das stets so geschah, daß 
Jedermann unter den Gästen sofort erkannte, Medio habe 
nur das Allgemeininteresse im Auge, so war er bald von 
selbst zu einer Autorität ersten Ranges im Städtchen gewor 
den, der sich sogar die Honoratioren, bisweilen selbst wider 
ihren vorherigen Willen, meist aber um so lieber deshalb un 
terwarfen, weil Herr Medio fern davon war, sich als Schieds 
richter hinzustellen, vielmehr nur Schlüsse und Resümees bezüglich 
des bisherigen Ganges der Gespräche darzulegen Pflegte, denen 
dann gewöhnlich, weil sie auf ebenso klarer, als namentlich un- 
partheiischer Auffassung fußten, Niemand großen Widerspruch 
mehr entgegensetzte und die dann häufig in ferneren Einrich 
tungen des Stadtwesens eine äußerlich wahrnehmbare Gestalt 
annahmen. , 
Heute Abend sollte aber Herr Medio durch ein bisher 
noch niemals in Mölsitz so gehörtes Gespräch in eine Verle 
genheit gesetzt werden, aus der er sich zum ersten Male nicht 
allein herauszufinden wußte und durch die er sich so gefangen 
fühlte, daß er öfters auffallend lange im Keller blieb, ja die 
hitzigen und durstigen Gesprächführer beider Kammern zu wie 
derholten Malen sich veranlaßt sahen, in den Keller hinabzu 
rufen, nach schnellerer Erquickung der bedürftigen Zungen. 
Die Veranlassung zu der ganz ungewöhnlichen Aufregung der 
Gemüther und dem entstehenden Wirrwarr der Ansichten gab 
aber eine Ankündigung, welche in dem heute, wie alle Sonn 
abende im Städtchen eingetroffenen Exemplare der Dorf-Zei 
tung zu lesen war, eine Ankündigung, welche den Mölsitzern 
mittheilte, daß sie durch einen Arzt einen Zuwachs im 
Städtchen erhalten, der als Naturarzt — nicht als ge 
wöhnlicher Arzt — im Orte und für dessen Umgegend auf 
treten wolle. Da es in Mölsitz, die Woche über, an und für 
sich wenig Zeitungsleser gab und die Dorfzeitung fast das einzige 
Blatt war, welches mit seiner „Dampfwagen"-Beilage, wenn 
auch nicht auf einer Eisenbahn, aber mit der durchgehenden, 
das Land mit dem Nachbarstaate verbindenden Postkutsche und 
zwar regelmäßig Sonnabends im Orte eintraf, so wurde 
schon deswegen Sonnabends der Rathskeller, dessen Wirth die 
Dorfzeitung hielt, gern desto mehr besucht, um die dann ein 
getroffenen Nachrichten von auswärts aus der großen, weiten 
Welt wenigstens einmal in der Woche zu vernehmen. Ge 
wöhnlich lag das Blatt zuerst in der ersten Kammer aus und 
Herr Bürgermeister Jnnocenz, dev sich als Ersten der Stadt 
betrachtete, machte auch den ersten Anspruch darauf; er wußte 
nun zwar bereits, als Ortsobrigkeit, von der Absicht des Dr. 
Helfer, sich in Mölsitz als Arzt niederlassen zu wollen, und 
hatte auch schon andeutungsweise von diesem selbst gehört, 
daß er hauptsächlich nur mit Wasser und reiner Luft, Bewe 
gung und Ruhe, Wärme und Kälte, einfacher Lebensweise, 
und dergl. sogen. Naturheilmitteln mehr, kuriren werde. Aber 
wenn er sich gerade deswegen von der scheinbaren Unbedeu 
tendheit dieses Doctors, der seit ungefähr 8 Tagen im Orte 
eingetroffen war, nicht weiter hatte in Anspruch nehmen las 
sen, so fiel ihm doch alsbald in der Beilage zur Dorfzeitung, 
dem „Dampfwagen'', die ihrem Inhalte nach außergewöhnliche 
Annonce des Doctors auf, der sich vermaß, „denjenigen, 
welche nach seinen Vorschriften ihr Leben einrich 
ten wollten, eine Verjüngung um 10 —15 Jahre 
zu versprechen, chronisch Kranken aber den richti 
gen Weg zu ihrer fernerhin allein und selbststän 
dig zu beendenden Heilung in sechs Wochen lehren 
und in acuten Krankheiten innerhalb 3 — 9 Ta 
gen, statt wie bisher in 3 — 7 Wochen die Gefahr 
überwinden und die naturgemäße Selbstheilung 
der Krankheit einleiten zu wollen." 
„Das war entweder offenbares sich zur Hexerei Bekennen 
oder betrügerische Absicht!" — Eben saß noch der für das Wohl 
der ihm anvertrauten Stadt in tiefe Gedanken ob dieser An 
nonce versunkene Bürgermeister da, als heute ungewöhnlich 
zeitig — e£* war eben erst 7 Uhr —, der Pastor des Ortes, 
Herr Löser, erschien, offenbar zufrieden mit sich, daß die 
morgenden Predigten, (denn er hatte da zwei Mal zu predigen, 
das eine Mal im benachbarten Neuwiesa, wo die nun wieder 
ausgebaute, vom Blitz eingeäschert gewesene Kirche — sein Filial 
— eingeweiht werden sollte, und das andere Mal Nachmittags 
in Mölsitz selbst) — glücklich einstudirt und nun einige Stun 
den Zeit zur Erholung von der geistig-formellen Strapaze 
gewonnen waren. Zugleich mit ihm kam auch Herr Schul- 
director Dehmuth und bald darauf der Ortschirurg, Herr 
Schöppe, an, so daß der Bürgermeister das Auditorium — 
denn er sprach nicht gern vor Wenigen — zahlreich genug 
erachtete, um in möglichst wohlgesetzter Rede seine strömende 
Entrüstung über die Dr. Helfer'sche Annonce zu ergießen. 
Pastor und Schuldirector saßen noch stumm ob des Gehörten, 
und auch Herr Schöppe schwieg noch, obgleich man an der 
Form, welche Mund- und Augenwinkel bei ihm annahmen, 
deutlich erkennen konnte, daß ihm die Philippica des Bür 
germeisters gegen solches marktschreierisches Auftreten des Arz 
tes — in dem er den Antipoden gewittert hatte, gleich seit er 
von dessen Ankunft die erste Sylbe vernommen — die größte 
Herzensfreude bereitet haben mußte. Die Herren saßen, wie 
gesagt, noch sprachlos, als Herr Medio abermals die Thüre 
der ersten Kammer öffnete und herein mit heftigem Tritt Herr 
Carl Augustin, der reiche Spitzen- und Spielwaarenhändler 
des Ortes, schritt. Das momentane Schweigen der vier An 
wesenden löste sich nun bald, da Herr Augustin auf die an 
ihn vom Bürgermeister gerichtete Frage: „ob er schon gelesen", 
die bedeutungsvolle Antwort gab: „Ich habe gelesen", dabei 
die betreffende Beilage zur Dorfzeitung aus der Tasche zog, 
sie sammt Schnupftabaksdose auf den Tisch legte und, nach 
dem er sich aus dem Ueberrock ausgeschält und den Stuhl 
sich zurechtgesetzt, mit den ferneren Worten des Bürgermeisters 
angegangen wurde: „Nun was sagen Sie dazu?" 
„Ich habe, erwiederte der Angeredete, sofort gedacht, 
daß gegen solches Beginnen in unserem Oertchen Himmel und 
Erde in Bewegung gesetzt werden müsse, nämlich daß Sie, 
Herr Pastor, als Vertreter des Himmels, und Herr Medici- 
nalrath Kazor, mein Hausarzt und ärztlicher bisheriger Be 
rather fast des ganzen Ortes, der hierbei das erste Wort in 
irdischer Hinsicht zu sprechen haben wird, sich die Hand rei 
chen und Sie, Herr Pastor, von der Kanzel herab, jener im 
Kreise seiner Clienten vor dem Antichrist warnen müssen, der 
im Begriff steht, in unsere Gemeinde und unsere Familien sich 
einzuschmuggeln, um eine tausendjährige Ordnung und Har 
monie umzustoßen. Schade, ewig Schade, daß der gute Me- 
dicinalrath gerade heute nicht in unserem Kreise anwesend ist, 
wie er es doch zuweilen Sonnabends möglich zu machen sucht." 
— „O, wahrscheinlich kommt er doch noch" —- fiel Herr 
Schöppe ein — „der Herr Stadtschreiber haben nach ihm ge 
schickt, da dessen älteste Tochter — Sie wissen, die Nasen 
kranke — Krämpfe bekommen hat, und es daher mir, weil
	        
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