Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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Physiatrische Heilung von englischer Krankheit^) 
(IRliacliitis). 
Mitgetheilt von Herrn Lehrer P. in Dresden im hhdro- 
diätetischen Verein. 
Im Jahre 1841 bezog ich mit meiner Familie, Frau 
und 2 Kinder (Mädchen von 4 und 3 Jahren), in der Nähe 
der damaligen katholischen Schule am Zwinger eine Woh 
nung, die ich in der Folgezeit der Gesundheit durchaus nicht 
zuträglich fand; denn es stellte sich bald heraus, daß beson 
ders das jüngere, früher ganz gesunde Kind, nach und nach 
immer schwächer ward, dabei einen stärkeren, ja gespannten 
Leib bekam, während der übrige Körper immer magerer 
wurde, die Knöchelgelenke hingegen immer mehr hervortraten; 
kurz — die Rhachitis oder englische Krankheit war da in 
bester Entwickelung. 
Das entging uns Eltern natürlich nicht, und alsbald 
wurden sowohl häusliche, als auch andere mcdicinische Mittel, 
als Malz- und Maiwuchs-Bäder — später,, nach ärzt 
licher Vorschrift, Leberthran eingegeben, den das Kind An 
fangs mit Widerwillen, später gern, jedoch ohne guten Er 
folg, einnahm. Während dem wurde das Kind, zumal auf 
den Beinen, immer schwächer, die Schienbeine krumm ausge 
bogen — der Gang schwerfällig und unsicher. 
Eines Tages, Anfangs October, lief die Kleine etwas 
eiliger aus einer Stube in die andere, stolperte aber'über die 
Schwelle, siel hin und konnte von dem Augenblick an nicht 
mehr auftreten, über das Kniechen klagend. Es wurde als 
bald Opodeldok eingerieben, da aber das nicht half, ward 
Herr vr. R, unser Freund, Hausarzt und Pathe desselben 
Kindes, um Rath gefragt. 
Ich muß vorausschicken, daß ich zu diesem Herrn damals 
volles Vertrauen hatte, zumal er früher — 1838 — mich 
selbst während einer sehr kritischen und bedenklichen Krankheit 
vollkommen wieder hergestellt hatte und sonst auch als ein 
ganz guter allopathischer Arzt galt. Sein Erstes, was er 
bei dem Kinde anwendete, waren — Blutegel, auf das 
kranke Knie gesetzt, welche tüchtig gezogen haben. Allein von 
da an, was wir bis dahin nicht bemerkt hatten, schwoll das 
Knie und der Schenkel bis zur Hüfte immer mehr auf, in 
deß das Schienbein bis zum Fuß, sowie der ganze übrige 
Körper, den Unterleib ausgenommen, sichtlich abmagerte, und 
die Kräfte schwanden. 
Nun wurde eine Einreibung angewendet, wahrscheinlich 
Merkurial-Salbe; denn sie überzog meinen Ring alsbald 
blaufarbig. Alles vergeblich. Zuletzt hieß es: „Das muß 
aufgehen!"; daher warme, ja so gut als zu ertragen, heiße 
Leinmehl-Umschläge, fortwährend, sobald sie kühl waren, ge 
wechselt. 
Unterdessen' war das arme Kind so hinfällig geworden, 
daß es sich kaum mehr rühren und nicht das Geringste mehr 
genießen konnte. Salep wurde nun noch, als die angeblich 
*) b. i. besonders bei 2- und mehrjährigen Kindern durch Rück 
grats-Krümmung, Knochenaustreibung, Gelenkknoten oder dreitheilige 
Schädelsorm, auch Verengerung der Brusthöhle, Anschwellung des Un 
terleibes, durch Gefräßigkeit u. s. w. sich charakterisirende Doppel- 
gliederigkeit, gewöhnlich Rückgrats-Krankheit schlechtweg genannt und 
englische (besser engländische) geheißen, weil sie sich zuerst in Eng 
land bemerkbar gemacht hat, von wo sie um die Mitte des 17. Jahr 
hunderts nach Deutschland und überhaupt dem Festlande überging. 
leichteste Nahrung, vorgeschrieben, aber auch diese vermochte 
es nicht zu vertragen. 
In diesem Zustande fragte ich den Arzt, was wohl aus 
der Patientin werden würde. 
Er aber — zuckte die Achsel — bedauerte sehr und 
meinte schließlich, wir sollen uns auf's Schlimmste nun gefaßt 
machen, er könne nichts mehr thun u. s, w. 
Nach solchem Troste kam ich eines Tages zu meinem 
sonst besten Freunde — einem geistlichen Herrn und klagte 
ihm meine Angst. 
Dieser bedauerte mich und deutete mir, wenn auch nur 
sehr zart an, daß, wenn er Arzt oder der Vater des Kindes 
wäre, er dasselbe schon durch andere Mittel gerettet haben 
dürfte. So aber, zumal dem Herrn vr. R. gegenüber, könne 
er und dürfe er nichts weiter rathen, da es ohnehin am 
Ende zu spät sei. Ich drang jedoch in ihn und bat um 
seine Angabe darüber, was er im anderen Falle gethan haben 
würde. Da machte er mich aus die Prießnitz-Gräfenberger 
Wasserkur aufmerksam, von welcher ich zwar schon Manches 
gehört, cs aber wenig oder gar nicht beachtet hatte. Zugleich 
händigte mir der Herr ein Buch (den Namen des Verfassers 
habe ich leider vergessen) über die Behandlung der Kinder 
krankheiten mit Wasser*) ein. 
Dieses Buch las ich schnell und zumal dasjenige, was 
sich auf meine Sache bezog, aufmerksam durch. Und mit 
Gott und Muth ging's sogleich an's Werk. Die Leinmehl 
umschläge und Einreibungen wurden eingestellt, das Beinchen 
sowohl als auch der ganze skelettartige Körper des Kindchens 
lauwarm zuerst tüchtig abgewaschen, ausgewundene, kalte 
Leinwand-Umschläge um das verschwollene Knie und den 
Schenkel angebracht und mit einem anderen trockenen Tuche 
fest und luftdicht verbunden. Auf deren Abnahme (nach ca. 
2 Stunden) ließ ich den ganzen Körper wieder, aber schon 
etwas kühler (18" R.) mit dem Badeschwamm abwaschen 
und nicht abgetrocknet in ein trockenes, weiches Betttuch ein 
hüllen und gut zu decken. — Nach Rückkehr völliger Erwär 
mung wurde das Beinchen abermals frisch eingewickelt, wie 
auch das erste Mal ein feuchtes, ausgewundenes Leintuch um 
den ganzen Körper angebracht und eine wollene Decke fest 
darumgewickelt; darin verblieb das Kind — zumal sehr 
schwach — so lange, als es schlief und kein Zeichen von Un 
ruhe kundgab, 2, 3, auch 4 Stunden; auch während der Nacht 
wurde der Umschlag, aber blos der um das Bein, wiederholt. 
Wie wunderten wir uns, daß der kalte Umschlag so 
schnell warm und bald immer wärmer wurde, während es 
beim früher heißen Leinmehl-Umschlag gerade umgekehrt zuging! 
Den nächsten Morgen wiederholte ich die Ganzpackung 
sammt besonderem Beineinschlag und hinterließ beim Ausgehen: 
man solle selbige nicht stören, bis ich wieder komme. 
Bei meiner Rückkehr war mein Erstes, nachzusehen, was 
unser Wickelkindchen mache, indem ich Willens war, den Um 
schlag u. s. w. zu wiederholen. Wie stutzte ich jedoch, als 
ich bemerkte, daß der alte Leinmehl-Umschlag abermals in 
seiner besten Form angebracht war. Die Mutter trat verle 
gen und weinend zu mir und sagte: Der Herr Doctor war 
schön böse, als er Deine Lappen erblickte. „Was soll das? 
Wer that das?" fragte er entrüstet, und sagte ich: Mein 
Mann hat aus einem Buche so 'was gelesen und sogleich die 
*) Anm. der Red. Vielleicht Maher's — des Dirigenten der 
Wasserheilanstalt Geltschberg in Böhmen — „KindeS-Pflege"? 
— welche in neuester Auflage 1861, Hildburghausen und Leipzig in 
Kesselring's Verlag erschienen ist.
	        
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