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Aber nun, da die Krankheit überstanden und nur die Er
schöpfung geblieben, erschien ich mir als keine gefährliche Per
son mehr und verlangte nach Menschen, die mir der steigende
Tag bringen sollte. Ich schleppte mich in gleicher Weise auf
das Sopha zurück, wo ich mich ganz erschöpft hinwarf.
Es währte nicht lange, so klopfte es und versuchte an
der äußeren Thüre, und bald darauf trat meiner Freundin
Mädchen, die treue Wilhelmine, stürmend herein; aber sie er
starrte, als sie mich sah, und rang die Hände. Auf ihrem
erbleichenden Gesicht las ich das Wort: Cholera! das zwischen
ihren bebenden Lippen erstarrte. Es stürzten ihr die Thränen
aus den pudeltreuen Augen und sie ries, mit ihrer gewohn
ten Lebhaftigkeit: „Mein Gott, mein Gott! was haben wir
uns geängstet und die Thüre bald eingeschlagen! Haben Sie
uns denn gar nicht gehört, Fräulein?"
Ich wußte kein Wort und schüttelte das Haupt, mit dem
Finger aus den Mund deutend, als Zeichen, daß mir das
Sprechen schwer falle.
„Jetzt ist die Herrschaft nun schon nach allen vier Enden
aus, um Sie bei Ihren Bekannten aufzusuchen, denn es fiel
ihr zum Trost ein, daß Sie schon einmal zu Mittag wegge
blieben waren."
„Was?" lispelte ich, sie näher winkend, „ist es denn
nicht früh am Morgen? Es ist ja noch dunkel."
„Weil es Abend wird," antwortete Jene.
Jetzt kam ich mir fast wie eine Wahnwitzige vor, denn
wer an meiner Stelle hätte sich's wohl einbilden können, von
früh 4 Uhr an bis Abends 5 fast ohne Bekleidung auf den
Dielen, und das vermuthlich im Starrkrämpfe, gelegen zu
haben?
Die praktische Wilhelmine aber flog fort und brachte mir
ein frisches Glas Wasser, was meine verlechzten Lippen öff
nete; naher mit dem Glase gekommen, sagte sie tragisch, aber
ganz freimüthig: „Mein Gott, Sie sehen ganz grün, Sie
armes Fräulein!"
Hier kamen meine Freunde, und ich sprach leise zu ihnen:
Gott sei Dank! es ist überstanden, aber todtmatt bin ich
noch! Und damit entschlief ich sanft, und erst nach dem
Schlafe vermochte ich, mein Erlebtes, wenigstens das Nöthigste,
mitzutheilen, ja, ich stieg sogar die Treppen mit ihrer Hülfe
herab, um mich in ihrer heiteren Stube behaglicher zu füh
len; doch war noch während ganzer acht Tage das Liegen auf
dem Sopha mein täglicher Gebrauch und zugleich der strenge
Befehl meiner Freunde; dann aber kehrten meine Kräfte ohne
Nachwehen zurück.
Ich weiß, es sind viele Cholerakranke, in letzter Zeit
dieses Uebels, von Aerzten behandelt worden und genesen;
aber in erster Zeit, wo sie pestartig war, geschah das
selten, und dann starben sie immer an den Nachwehen der
starken Gifte, gewöhnlich abzehrend. Bei so heftigem Anfall
wäre aber jeder Arzt zu spät gekommen!
Bekannt ist auch, daß man viel milder jetzt, mit Was
sereinwickelungen, hierbei verfährt und stets rettet, aber noch
mal unterstreiche ich es: die Cholera selbst ist milder gewor
den und kann demnach auch milder behandelt werden. Meine
Dankbarkeit aber fesselte mich, von da an, für ewig an's
Wasser! — Äann man sich deß' verwundern?
Des Naturarztes v. Helfer Leiden und Freuden.
Somatlsch-hydriatische Novelle*).
In dem kleinen Marktflecken, bez. Grenzstädtchen, M ölsitz
ging's am Sonnabend Abend, dem Vorabend der Kirms (Kirchweih
fest) auf dem Rathskeller sehr lebhaft zu. Wenn zu Haus in der
Familie die Frauen und Mädchen für ein Fest backen, fegen,
putzen oder sonst vorrichten, da ist's ihnen lieb, wenn die
Männer hübsch wegbleiben, bis die Arbeit gethan ist, und die
Mölsitzer Gatten, Väter und Brüder, ließen sich das gern
gefallen und kamen deshalb auch, wenn's Kirchmeß am näch
sten Tage gab, doppelt zahlreich in dem überhaupt beliebten
Rathskeller-Locale zusammen, um zu überplaudern, was seit
dem letzten Kirchweihfeste bis zu dem jetzigen Alles passirt
war im Oeffentlichen, wie im Einzelnen, und Ahnungen,
Wünsche und Verwahrungen dem Kommenden gegenüber aus
zutauschen. Die Gastlocalitäten des Rathskellers und der
Wirth dazu waren aber auch wie für die Bedürfnisse der
Jetztzeit besonders gebaut und erschaffen. Erstere, -die Loca-
lität, bestand aus zwei Räumen, einem großen, welcher neben
einem Billard Platz genug zu einem Dutzend Tische mit Bänken
für die ganze eigentliche Bürgerschaft des Städtchens dar
bot, und einem daranstoßenden kleineren Zimmer, welches für
die Honoratioren des Ortes, althergebrachter Sitte gemäß,
immer reservirt und von diesen ebenfalls ziemlich fleißig, na
mentlich aber heute, stark besucht war. Diese beiden Gast-
Localitäten des Rathskellers von Mölsitz verhielten sich zu
einander mit ihrem Inhalt an gewöhnlichen Besuchern, wie
eine zweite und erste Kammer bei einer Landesvertretung, nur
daß beide — und dies hauptsächlich in Folge des klugen und
zeitgemäßen Benehmens des Wirthes beiden gegenüber — ihre
nachbarliche Existenz besser, als man es oft anderwärts im
Leben findet, für den wahren gemeinsamen Nutzen ihres
Städtchens (allerdings je nach der Verschiedenheit des Be
rufes und der darin und dabei gemachten Erfahrungen, also
je nach den individuellen Ueberzeugungen) fruchtbringend zu
machen und nicht für persönliche Interessen auszubeuten such
ten. Der Wirth, Herr Rathskellerpachter Medio — der sich
selbst im Leben viel umgesehen, früher als Geschäftsreisender
eines bedeutenden Handelshauses mit den verschiedensten Cha
rakteren der bürgerlichen Gesellschaft in den mannigfaltigsten
Beziehungen gestanden hatte — hatte sich bald, bei Hoch und
Niedrig seiner Gäste, durch den Grundsatz beliebt und sogar
sehr geachtet gemacht, daß, sobald es sich in den Gesprächen
um gemeinsame, öffentliche Angelegenheiten handele, er, dem
der gleichzeitige Zutritt in die erste, wie zweite Kammer offen
stand, den theilnahmvollen, nicht teilnahmlosen und zwar
unpartheiischen Vermittler zwischen beiden oft schroffen Gegen
sätzen darzustellen habe. Herr Medio hatte daher die Ge
wohnheit angenommen, ganz still, aber aufmerksamst den Ge
sprächen in beiden Zimmern zu folgen, das Gehörte dann,
wenn er im Keller Stärkung holte, sofort vor seinem vor-
urtheilsfreien, der Gesammtheit und nicht Einzel-Interessen
zugethanen Geiste die Revue passiren zu lassen und, bei ge
legentlichen Pausen in der einen oder anderen Kammer oder,
wie noch viel häufiger geschah, wenn er geradezu um seine
Meinung gefragt wurde, nun die Ansichten und Gründe der
*) Für die neuen Abonnenten des Naturarztes die Bemerkung:
Die heurige Fortsetzung obiger Novelle geschieht dergestalt, daß eine
Kenntniß des Inhalts davon im vor. Iahrg. „Wasserfreund" nicht
nöthig erscheint. War im vor. Jahre Dr. Helfers Vergangenheit Ge
genstand, so ist es jetzt ganz selbstständig dessen G e g e n w a r t und Zukunst.