Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

29 
Aber nun, da die Krankheit überstanden und nur die Er 
schöpfung geblieben, erschien ich mir als keine gefährliche Per 
son mehr und verlangte nach Menschen, die mir der steigende 
Tag bringen sollte. Ich schleppte mich in gleicher Weise auf 
das Sopha zurück, wo ich mich ganz erschöpft hinwarf. 
Es währte nicht lange, so klopfte es und versuchte an 
der äußeren Thüre, und bald darauf trat meiner Freundin 
Mädchen, die treue Wilhelmine, stürmend herein; aber sie er 
starrte, als sie mich sah, und rang die Hände. Auf ihrem 
erbleichenden Gesicht las ich das Wort: Cholera! das zwischen 
ihren bebenden Lippen erstarrte. Es stürzten ihr die Thränen 
aus den pudeltreuen Augen und sie ries, mit ihrer gewohn 
ten Lebhaftigkeit: „Mein Gott, mein Gott! was haben wir 
uns geängstet und die Thüre bald eingeschlagen! Haben Sie 
uns denn gar nicht gehört, Fräulein?" 
Ich wußte kein Wort und schüttelte das Haupt, mit dem 
Finger aus den Mund deutend, als Zeichen, daß mir das 
Sprechen schwer falle. 
„Jetzt ist die Herrschaft nun schon nach allen vier Enden 
aus, um Sie bei Ihren Bekannten aufzusuchen, denn es fiel 
ihr zum Trost ein, daß Sie schon einmal zu Mittag wegge 
blieben waren." 
„Was?" lispelte ich, sie näher winkend, „ist es denn 
nicht früh am Morgen? Es ist ja noch dunkel." 
„Weil es Abend wird," antwortete Jene. 
Jetzt kam ich mir fast wie eine Wahnwitzige vor, denn 
wer an meiner Stelle hätte sich's wohl einbilden können, von 
früh 4 Uhr an bis Abends 5 fast ohne Bekleidung auf den 
Dielen, und das vermuthlich im Starrkrämpfe, gelegen zu 
haben? 
Die praktische Wilhelmine aber flog fort und brachte mir 
ein frisches Glas Wasser, was meine verlechzten Lippen öff 
nete; naher mit dem Glase gekommen, sagte sie tragisch, aber 
ganz freimüthig: „Mein Gott, Sie sehen ganz grün, Sie 
armes Fräulein!" 
Hier kamen meine Freunde, und ich sprach leise zu ihnen: 
Gott sei Dank! es ist überstanden, aber todtmatt bin ich 
noch! Und damit entschlief ich sanft, und erst nach dem 
Schlafe vermochte ich, mein Erlebtes, wenigstens das Nöthigste, 
mitzutheilen, ja, ich stieg sogar die Treppen mit ihrer Hülfe 
herab, um mich in ihrer heiteren Stube behaglicher zu füh 
len; doch war noch während ganzer acht Tage das Liegen auf 
dem Sopha mein täglicher Gebrauch und zugleich der strenge 
Befehl meiner Freunde; dann aber kehrten meine Kräfte ohne 
Nachwehen zurück. 
Ich weiß, es sind viele Cholerakranke, in letzter Zeit 
dieses Uebels, von Aerzten behandelt worden und genesen; 
aber in erster Zeit, wo sie pestartig war, geschah das 
selten, und dann starben sie immer an den Nachwehen der 
starken Gifte, gewöhnlich abzehrend. Bei so heftigem Anfall 
wäre aber jeder Arzt zu spät gekommen! 
Bekannt ist auch, daß man viel milder jetzt, mit Was 
sereinwickelungen, hierbei verfährt und stets rettet, aber noch 
mal unterstreiche ich es: die Cholera selbst ist milder gewor 
den und kann demnach auch milder behandelt werden. Meine 
Dankbarkeit aber fesselte mich, von da an, für ewig an's 
Wasser! — Äann man sich deß' verwundern? 
Des Naturarztes v. Helfer Leiden und Freuden. 
Somatlsch-hydriatische Novelle*). 
In dem kleinen Marktflecken, bez. Grenzstädtchen, M ölsitz 
ging's am Sonnabend Abend, dem Vorabend der Kirms (Kirchweih 
fest) auf dem Rathskeller sehr lebhaft zu. Wenn zu Haus in der 
Familie die Frauen und Mädchen für ein Fest backen, fegen, 
putzen oder sonst vorrichten, da ist's ihnen lieb, wenn die 
Männer hübsch wegbleiben, bis die Arbeit gethan ist, und die 
Mölsitzer Gatten, Väter und Brüder, ließen sich das gern 
gefallen und kamen deshalb auch, wenn's Kirchmeß am näch 
sten Tage gab, doppelt zahlreich in dem überhaupt beliebten 
Rathskeller-Locale zusammen, um zu überplaudern, was seit 
dem letzten Kirchweihfeste bis zu dem jetzigen Alles passirt 
war im Oeffentlichen, wie im Einzelnen, und Ahnungen, 
Wünsche und Verwahrungen dem Kommenden gegenüber aus 
zutauschen. Die Gastlocalitäten des Rathskellers und der 
Wirth dazu waren aber auch wie für die Bedürfnisse der 
Jetztzeit besonders gebaut und erschaffen. Erstere, -die Loca- 
lität, bestand aus zwei Räumen, einem großen, welcher neben 
einem Billard Platz genug zu einem Dutzend Tische mit Bänken 
für die ganze eigentliche Bürgerschaft des Städtchens dar 
bot, und einem daranstoßenden kleineren Zimmer, welches für 
die Honoratioren des Ortes, althergebrachter Sitte gemäß, 
immer reservirt und von diesen ebenfalls ziemlich fleißig, na 
mentlich aber heute, stark besucht war. Diese beiden Gast- 
Localitäten des Rathskellers von Mölsitz verhielten sich zu 
einander mit ihrem Inhalt an gewöhnlichen Besuchern, wie 
eine zweite und erste Kammer bei einer Landesvertretung, nur 
daß beide — und dies hauptsächlich in Folge des klugen und 
zeitgemäßen Benehmens des Wirthes beiden gegenüber — ihre 
nachbarliche Existenz besser, als man es oft anderwärts im 
Leben findet, für den wahren gemeinsamen Nutzen ihres 
Städtchens (allerdings je nach der Verschiedenheit des Be 
rufes und der darin und dabei gemachten Erfahrungen, also 
je nach den individuellen Ueberzeugungen) fruchtbringend zu 
machen und nicht für persönliche Interessen auszubeuten such 
ten. Der Wirth, Herr Rathskellerpachter Medio — der sich 
selbst im Leben viel umgesehen, früher als Geschäftsreisender 
eines bedeutenden Handelshauses mit den verschiedensten Cha 
rakteren der bürgerlichen Gesellschaft in den mannigfaltigsten 
Beziehungen gestanden hatte — hatte sich bald, bei Hoch und 
Niedrig seiner Gäste, durch den Grundsatz beliebt und sogar 
sehr geachtet gemacht, daß, sobald es sich in den Gesprächen 
um gemeinsame, öffentliche Angelegenheiten handele, er, dem 
der gleichzeitige Zutritt in die erste, wie zweite Kammer offen 
stand, den theilnahmvollen, nicht teilnahmlosen und zwar 
unpartheiischen Vermittler zwischen beiden oft schroffen Gegen 
sätzen darzustellen habe. Herr Medio hatte daher die Ge 
wohnheit angenommen, ganz still, aber aufmerksamst den Ge 
sprächen in beiden Zimmern zu folgen, das Gehörte dann, 
wenn er im Keller Stärkung holte, sofort vor seinem vor- 
urtheilsfreien, der Gesammtheit und nicht Einzel-Interessen 
zugethanen Geiste die Revue passiren zu lassen und, bei ge 
legentlichen Pausen in der einen oder anderen Kammer oder, 
wie noch viel häufiger geschah, wenn er geradezu um seine 
Meinung gefragt wurde, nun die Ansichten und Gründe der 
*) Für die neuen Abonnenten des Naturarztes die Bemerkung: 
Die heurige Fortsetzung obiger Novelle geschieht dergestalt, daß eine 
Kenntniß des Inhalts davon im vor. Iahrg. „Wasserfreund" nicht 
nöthig erscheint. War im vor. Jahre Dr. Helfers Vergangenheit Ge 
genstand, so ist es jetzt ganz selbstständig dessen G e g e n w a r t und Zukunst.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.