Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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Ueber den Aderlaß und dessen Werth in der 
Lungenentzündung. 
Von Dr. Gleich in München. 
Allwärts giebt es noch eine Unzahl Leute, die der 
Meinung sind, der Aderlaß sei in gewissen Krankheiten, z. B. 
in der Lungenentzündung, nicht allein ein sehr sicheres, sondern 
sogar das einzig sicher zur Heilung führende Mittel. „Diese 
Meinung", sagt Dr. Richter, „ist seit alten Zeiten unter Aerz 
ten und Laien als eine ersahrungsmäßig gesicherte Thatsache 
betrachtet und wird zum Theil noch dafür gehalten." That 
sachen aber lassen sich nicht blos behaupten, sondern müssen be 
wiesen werden, und solche Beweise liefert am zuverlässigsten die 
Statistik (Nachweis durch Zahlen). Die Aerzte Dietl und 
Schwarze (zwei allopathische Aerzte) haben sich der Aufgabe, 
solche statistische Beweise für die Heilsamkeit des Aderlasses 
aufzustellen, mit vieler Mühe und Umsicht unterzogen, und die 
Resultate, zu denen sie bezüglich des Verhältnisses des Ader 
lasses zur Lungenentzündung gekommen sind, theilen sie in 
folgender Weise mit: Von hundert an Lungenentzündung Kran 
ken, die in allen Stadien der Krankheit mit gänzlicher Ver 
meidung des Aderlasses behandelt wurden, sind nach den 
Wahrnehmungen Dietl's 9, nach denen Schwarze's 14 
Personen, also durchschnittlich 11} Procent gestorben, während 
von hundert anderen, unter gleichen Verhältnissen Erkrankten 
bei einmaligem und öfteren Aderlässe durchschnittlich 36 Pro 
cent starben. Die Sterblichkeit beim Aderlässe war also 24£ 
Procent größer, als ohne denselben. Die gute Wirkung des 
Aderlasses in Lungenentzündungen war demnach keine posi 
tive Erfahrung, sondern eine leere Einbildung. 
Die Erfahrungen, auf welche gestützt man sich früher für die 
Anwendung des Aderlasses in Lungenentzündungen entschied, 
sind also durchaus falsch gewesen, und dies Factum hat die 
Meinung der besten Aerzte über den Werth des Aderlasses 
plötzlich so stark erschüttert, daß sie sich von demselben gänz 
lich fernhalten. Indessen die große Mehrzahl der Aerzte, be 
sonders in München, greift noch fortwährend, sobald sie von 
Lungenentzündung hört, zu Schnepper und Lanzette. — Rech 
net man die in den Jahrhunderten, wo die falsche Erfahrung 
über den Werth des Aderlasses in ganz unangefoch tenem An 
sehen bestand, unnöthiger Weise getödteten Kranken nach an 
nähernder Abschätzung zusammen, so dürfte man sehr leicht zu 
einem Resultate kommen, das nachwiese, daß die anscheinend 
so wohlthätige Lanzette im Ganzen mehr Menschenleben ge 
fressen hat, als das Schwert, und die Aerzte die Menschen 
stärker decimirt haben, als Eroberer und Kriegssürsten, von 
deren Gräuelthaten Dr. Perner in öffentlichen Blättern ein so 
schauerliches Bild entwirft. Ein Verein zum Schutze der 
Thiere ist allerdings etwas sehr löbliches; ein Verein zum 
Schutze der Menschen gegen die Verirrung der Aerzte aber 
wäre nicht minder etwas sehr Nothwendiges. Möchte sich für 
diesen recht bald auch ein Prinz an die Spitze stellen; der 
Dank der Mit- und Nachwelt könnte ihm nicht ausbleiben! 
„Aber, so wird man sich mit Recht fragen, wie konnte 
man denn zu einer so falschen Erfahrung kommen?" Einfach 
deshalb, weil die Aerzte sich stets nur nach Theorien richten. 
Theorien über eine falsche Beschaffenheit des Blutes in Ent 
zündungen waren es, welche die Aerzte zu dem Eingriffe des 
Aderlasses bestimmten. Man sagte: „in Entzündungen, hcmpt- 
sächlich in den Lungen, hat sich die Beschaffenheit des Blutes 
krankhaft geändert; es hat krankhaften Ueberschuß an Faser 
stoff; der Aderlaß dient nun dazu, die allgemeine Masse des 
Blutes zu vermindern, und damit vermindert sich auch der 
krankhafte Faserstoff." Dies geschieht aber in der That nicht, 
sondern im Gegentheil hat das Blut aus späteren Aderlässen 
sogar meistens verhältnißmäßig noch mehr Faserstoff (Speck 
haut), als das erst entzogene, überdies aber weiset neuerdings 
Virchow sehr klar nach, daß die Quelle des krankhaft ver 
mehrten Faserstoffes nicht eine ursprüngliche Veränderung des 
Blutes selbst, sondern erst das spätere Product einer krank 
haften Veränderung des Zustandes des Lungengewebes ist. 
Man sieht also deutlich, daß man sich, einer falschen Lehre zu 
Gefallen, eine Erfahrung schuf, welche Jahrhunderte lang die 
ganze Menschheit nach den Regeln der Kunst decimirte (was 
absolut unmöglich gewesen wäre, hätten die Aerzte das „Na 
turinstinkt-Gesetz" geachtet). So haben auch hier wieder, wie 
schon gar oft, Verstand, Wissenschaft und Erfahrung ohne 
Beachtung des „Naturinstinkt-Gesetzes" den Pflock neben das 
Loch gesetzt. Jede Erfahrung, die mit diesem Gesetze im Wi 
dersprüche steht, ist eine falsche. Die wahre Erfahrung lehrt 
über den Aderlaß einfach Folgendes: Der Kranke fühlt sich 
nach demselben auf kurze Zeit allerdings erleichtert, indessen 
diese bald vorübergehende Erleichterung bedeutet nichts weni 
ger als Heilung, denn sehr rasch tritt schon wieder Verschlim 
merung ein, die jetzt außer allen früheren Erscheinungen auch 
noch diejenigen der durch den Blutverlust bedingten allgemei-
	        
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