Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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Stillen zu sagen, daß trotz des Vaters Querelen und immer 
ärger werdenden Mordgeschrei es um Heinrich doch nicht so 
schlecht stehe und daß ich, wenn es mein eigenes Kind wäre, 
beim reifsten Ueberlegen eigentlich nicht rationeller handeln 
könnte, als es bei Heinrich gleichsam unfreiwillig geschah. 
Ich sagte mir: wozu bei Heinrich, der den ganzen Tag fast 
nicht aus dem gut geheizten (18 Grad R.) Zimmer kam, sich 
so gut wie keine Bewegung machte, also auch wenig Stoff 
verbrauch hatte, durch Zufuhr reichhaltiger Nahrung einen er 
höhten Verbrennungsproceß herbeiführen, um ihn dann wieder 
mit Wasser löschen zu müssen? Sein Appetitmangel rührte 
ganz einfach daher, daß wenig Stoffverbrauch vorhanden war; 
wozu nun durch pikante und rasch verdautere Nahrungsstoffe, 
wie kräftige Bouillon und saftigen Braten, einen künstlichen 
Appetit herbeiführen? wie der Franzose sagt: l'apxstit vient 
en mangeant! Ein völlig ungeeignetes Gebühren das! man 
kann füglich den zweiten Prdceß der Abkühlung, der Fieber 
dämpfung, der Fiebermäßigung, dem betreffenden, keine über 
flüssigen Kräfte besitzenden, Organismus ersparen, wenn man 
den ersten der tollen Feuerung, d. i. die übermäßige Stoff 
zufuhr, unterläßt! Oder glaubte etwa Herr §., des Men 
schen Verdauungsrohr nehme so empfindungslos seine Ladung 
auf, wie ein zwölfpfündiger Kanonenlauf? Da irrt er sich 
gewaltig! Verdauen ist auch ein Lebensproceß, der Kräfte 
in Anspruch nimmt; und vollends kräftige Bouillon und saf 
tigen Braten verdauen, das will was heißen! Das kann 
nicht vor sich gehen, ohne die kranken Lungen bedeutend 
in Mitleidenschaft zu ziehen; durch diese erhitzenden Nahrungs 
stoffe nämlich wird der Blutumlauf wesentlich gesteigert; 
um 10 bis 20, ja 50 Schläge per Minute steigt der Puls, 
und. eine solche Blutcirculationssteigerung soll keinen nachthei 
ligen Einfluß auf jene kranken Blutorgane ausüben? eine 
solche Zehrsiebergluth, die, kaum gelöscht, immer wieder durch 
neue Stoffzufuhren angefacht wird, den Krankheitsproceß in 
den Lungen nicht vermehren? Das bedarf wohl keiner langen 
weiteren Definition! Und wohin führt nothwendig dieses Ge 
bühren? Lediglich zum Bankerott des Organismus, der ein 
solches scheinbar physiologisch richtiges Manöver durchmachen 
muß. Ich hatte mir, als ich Heinrich zum zweiten Mal in 
Behandlung bekam und seinen jetzt gefährlicheren Zustand 
wohl erkannte, überhaupt zur Aufgabe gemacht: gleich einem 
Fabius Cunctator (nicht a la Dr. Sassafras) nur dahin 
zu streben, ihn ohne alles Aufsehen, wie man sagt, ohne jede 
besondere Kraftanstrengung den Winter überhaupt nur hin 
durchzubringen, ihn wie ein Murmelthierchen gleichsam einen 
therapeutischen Winterschlaf durchmachen'zu lassen; mochte er 
auch dabei noch mehr abmagern, was that's? Er war jung, 
hatte eine gute Dosis Zähigkeit, der man schon was aufbür 
den konnte, daher war es wir sogar lieb, wenn der Abbruch 
den Neubau eine Zeitlang prävalirte, calculirend, daß wäh 
rend dessen vieles Breßhafte seines Körpers den Winter über 
mit verbrennen werde, welches, wenn einmal die Mailüfterl 
wieder wehen und der Kranke seine Gänge in's Freie wieder 
machen konnte, dann bei regerem Neubau und gutem Futter 
jedenfalls durch bessere Qualität wieder ersetzt werden würde. 
Autoritäten will der Mann als Gewährsmänner? *) Den 
*) Sehen wir doch ab von diesen Catheder-Autoritäten, hinter denen 
nicht mindestens 1000 positive Thatsachen als ebenso viele Gewährsmänner 
stehen! Wie lange haben sie denn Bestand, damr kommt ein Anderer 
und wirft eine solche wissenschaftliche Majestät von ihrem usurpirten 
Thrönchen herunter und stellt sein System als Dogma, als unfehlbare 
Weisheit afij, bis auch ihn wieder sein Schicksal ereilt? I 
Professor Bock citirt er?! Da macht er ja den Bock zum Gärt 
ner, denn der ist ganz gegen die Wasserkur, und wie weit 
ihn dieses weisen Mannes Rath, den er 1854, von Königs 
brunn abgehend, auf der Rückreise nach Creuznach, einholte, 
in Wahrheit brachte, das ersehen wir aus dem Umstande, daß 
Herr C. seinen Heinrich im Februar 1856 trotz Bock's Ab 
rathen doch wieder in eine Wasserheilanstalt übersiedelte. 
Was hat nun das gute animalische Futter des Leipziger Pro 
fessors gegen die Dyskrasie geholfen? Nichts! Nichts ande 
res, als daß sie in 2 Jahren immer weitere Fort 
schritte machte! Wenn der Laubbacher Kurtisch so gut 
war und Heinrich dort am Gewichte zunahm, warum blieb 
denn C. nicht dort mit seinem Sohne? Ich wollte dem Herrn 
C. auch eine Autorität entgegenhalten, aber blos eine prak 
tische, keine theoretische, wenn er sie gelten ließe; doch erläßt 
einmal Nichts gelten, will nur seine momentane Anschauung 
respectirt wissen. Was hatPrießnitz mit seinen Fleischtöpfen 
ausgerichtet in solchen Leiden, gegenüber von Schroth, der 
noch zehnmal weniger gab, als ich Heinrich täglich essen 
ließ, wenn er nur wollte? Und wenn er nicht wollte, dann 
brauchte er eben auch Nichts, denn nicht Alles, was in 
den Magen kommt, wird verdaut, wird Blut, wird wieder 
Baustein für verbrauchtes Gewebe; in tief eingewurzelten dys- 
kratischen Leiden nährt man mit gutem Futter offen 
bar die Dyskrasie gleich einer Schmarotzerpflanze, 
und es ist ebenfalls ganz physiologisch richtig, daß 
durch zeitweilige, absichtlich mangelhafte, Ernährung, 
wo weniger eingeführt, als ausgegeben wird, auch viel krank 
haftes Gewebe vom Oxygen der atmosphärischen Luft ge 
schmolzen und verbrannt, dadurch der Schmarotzerpflanze die 
Lebensfähigkeit entzogen wird, an deren Stelle dann bei Wie 
deraufnahme besserer und hinlänglicher Ernährung auch ein 
normalerer Stoffansatz und Gewebeneubildung stattfinden k an n, 
wird und muß! Ueber die verschiedenen sich widersprechen 
den Behandlungsarten bei Schwindsucht, Scropheln re. später 
am Schluffe eine Nachlese. Hier möchte ich schließlich die 
Leser dieses Blattes (Einem oder dem Anderen vielleicht 
zu Nutz und Frommen!) blos fragen, wie ihnen beim 
Empfang solcher Episteln, ab Seiten der Angehörigen ihrer 
Patienten wohl zu Muthe wäre? Gleicht dieses fortwährende 
Corrigiren der Behandlung von Seite des Herrn C nicht ganz 
dem Bilde, wo einem Kutscher auf dem Bocke, der Ziel 
und Wege seiner Fahrt genau kennt, dennoch alle 
Augenblicke aus dem Wagen heraus zugerufen wird: rechts, 
links, langsam, schneller re. Bleibt Einem da schließlich nichts 
Anderes übrig,, als es zu machen wie Pelissier's Leibkutscher? 
So machte ich es nun auch: eine kategorische Erklärung ging 
nach D. ab — entweder'Du fährst allein, oder ich, das 
Dreinsprechen muß jetzt ein Ende haben! Man kann ärzt 
lich wahrlich nicht mehr leisten, als daß man einen Kran 
ken, der, zum Sterben krank, Einem in's Haus gebracht und 
von dessen nahem Ende die.Kunde täglich per Telegraph 
erwartet wird — nach 2 Monaten noch am Leben erhal 
ten hat; bei solchem Krankheitszuftande und im Winter noch 
mehr verlangen zu wollen, ist mehr wie unbillig, ist un 
dankbar. 
Darauf kam nun mehrere Tage später das letzte Schrei 
ben des Herrn C., von welchem mir das erste und dritte Blätt 
chen leider abhanden gekommen sind; das zweite fängt wie 
folgt an: 
„Ich bin sehr zu beklagen, unter solchen Umständen und Sie 
nicht viel weniger, daß Sie mit einem Manne — dem Wirthschaften
	        
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