Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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selbst zu entnehmen und darnach einem Kurplan sich zu unter 
werfen, wie er für Ihre speciellen Verhältnisse praktisch und 
passend wäre: 
Beim Beginn der französischen ersten Revolution lebte in 
dem jetzigen Departement Aoude, in der Nähe von Toulouse, 
die Familie des Grafen de B. Sie besaß da große Besitz 
ungen und erfreute sich überhaupt Alles dessen, was zu der 
Erde schönsten Gütern gerechnet wird. Nrn die Tochter, 
welche der Graf neben zwei kleineren Söhnen besaß, brachte durch 
ihr krankhaftes Wesen und die damit verbundenen mehr oder we 
niger häufigen übrigen Zufälle einigen Schatten der Sorge in 
das sonst nur sonnige Schicksal dieser Familie. Amelie, so 
hieß das Mädchen, war im Jahre 1792 17 Jahre alt und 
schon seit ihrem 10ten Jahre leidend; damals hatte sie sehr 
schnell hintereinander verschiedene Fieber- und Entzündungs 
krankheiten gehabt, welche hauptsächlich mit Blutentziehungen 
behandelt worden waren und von denen sie sich, trotz der 
sorgsamsten Pflege und nahrhaftesten Diät, nicht wieder or 
dentlich hatte erholen können. Vorher und ziemlich bis ein Jahr 
vor jenen ihr (scheinbar) verhängnisvoll gewordenen Krankheiten 
war sie blühend, ja strotzend von Gesundheit gewesen, so 
daß sie der Graf gern seinen pomme du JSsord zu nennen 
pflegte, zur Erinnerung an Amelie's brave Amme, welche aus 
der Bretagne (in dem jetzigen Departement Vilaine) stammte 
und um die Zeit von Amelie's Geburt mit ihrem Manne, 
einem Gärtner aus der Normandie, auf den Besitzungen des 
Grasen angekommen war, berufen, um hauptsächlich die Obst 
baumcultur und vor Allem die des Apfelbaumes zu leiten. 
Seit ihrem 10. Jahre also kränkelte Amelie, sah bleich aus 
und hatte etwas gelbliches Colorit und graue Ringe um die 
Augen; sie wechselte oft rasch die Farbe ihres Gesichts, so 
daß sie häufig rothe Wangen, aber blasse Lippen, Zahnfleisch 
und Augenlider zeigte. Die frühere Körperfülle hatte nach und 
nach einer gedunsenen Ernährung Platz gemacht, welche zu recht 
merklichen Anschwellungen der sogen. Kropfdrüse geführt hatte 
und auch öfters Wasseransammlungen in den Füßen verur 
sachte. Dabei war sie häufig von Kopfschmerz geplagt, von 
Ohrensausen und Nervenerscheinungen mannigfacher Art, wie 
sie Hysterischen eigen sind. Schläfrigkeit wechselte bei ihr 
mit Schlaflosigkeit, Mattigkeit und leichte Ermüdung mit 
plötzlicher Erregtheit; starkes Herzklopfen machte es ihr un 
möglich,, die Promenaden und Ausflüge der Familie zu thei 
len; schon ein Gang über die Treppe griff sie äußerst an 
und daher war ihr Aufenthaltsort meist das Bett oder Sopha 
ihres Wohnzimmers. Dieses war daher auch ganz besonders 
gemächlich und reizend eingerichtet, lag im erhöhten Erdge 
schoß, war mit Ausgang auf die breite Terrasse nach dem 
Garten und Flusse zu versehen, und machte es möglich, ohne 
viele körperliche Mühe in einen Nachen zu gelangen, mit dem 
Amelie, wenn die Körperzustände es irgend zuließen, gern in 
Begleitung ihrer Gesellschafterin dem an der Terrasse entlang 
laufenden Flüßchen nach fuhr, hin zur Maierei, wo die treue 
Babette, die frühere Amme, mit dem kräftigen, treuherzigen, 
normännischen Gatten jetzt noch die Gartenwirthschaft besorgte. 
Diese Kahnfahrten liebte Amelie aber auch der sauren 
Milch wegen, welche die gute Babette ihr stets bereit hielt 
und die sie oft mit Leidenschaft aß, während ihre Eßlust sonst 
eine sehr ungenügende und die Wünsche der Eltern und des 
Arztes wenig befriedigende war. — Saß Amelie im Kahne, 
so legte ihr die Gesellschafterin wohl bisweilen, auf Anrathen 
des Arztes, die Ruder in die Hand, damit die Muskulatur des 
meist aufgetriebenen Unterleibes, eben so wie die der Brust, 
in etwas mehr als gewöhnliche Thätigkeit versetzt und da 
durch den mancherlei Uebeln entgegengearbeitet werde, welche 
sich da theils durch Verstopfungen (die bisweilen mit schlei 
miger Diarrhoe wechselten), theils durch völlige Unregelmäßig 
keit und Mangelhaftigkeit wie Schmerzhaftigkeit der Menstrua 
tion, ebenso durch Schwerathmigkeit, stärkeres Herzklopfen und 
dergl. kundgaben. Aber Amelie gab stets sehr bald die be 
schwerlichen Ruder wieder in die Hände der Begleiterin zurück 
und zog viel lieber zwei zierliche Flacons hervor, aus deren einem 
sie eine eisenhaltige Substanz in Form einer Limonade *) an die 
Lippen, aus dem anderen aber stärkenden Odeur an die Nase 
brachte. „Das sind meine Ruder, pflegte sie zu sagen; wenn 
diese mich nicht in den Hafen der Genesung führen, so sehe 
ich ihn niemals!" 
Und doch sollten die Ruder und nicht die Flacons Amelie 
auf die Bahn der Genesung führen! 
Kurz und gut, Amelie war bleichsüchtig im höchsten Grade. 
Bertha. Ich wollte schon fragen, ob Sie mit Ihrer 
Amelie nicht mich schildern; ich fühle mich ihr wenigstens voll 
kommen gleichgestaltet; nur fehlt mir der Kahn und die Ge 
sellschafterin und der südliche Himmel Frankreichs, um mir 
ganz als Comtesse Amelie vorzukommen. 
Dr. Helfer. Sie gleichen sich auch, wie mehr oder 
weniger alle Bleichsüchtige, sehr unter einander, da und sofern 
sie in einem und demselben Stadium der Krankheit stehen. 
Amelie, welche, wie sie, geehrtes Fräulein, im zweiten Sta 
dium, dem nämlich der ausgebildeten B^., befindlich war, 
zeichnete sich durch ihr zartes Wachscolorrt, durch die stark 
hervortretende Blässe der Lippen, Nasenflügel und Augenlider 
aus; ihre Augen waren wie von einem bläulichen Schimmer 
umflossen, matt und schmachtend, und den Leidenszügen war 
dadurch etwas äußerst Anziehendes gegeben. 
Bertha (lächelnd). Hu! auch meine Marmorhaut über 
rieselt es jetzt wieder, wie fast immer, kalt, und wenn's aller 
seits recht ist, dächte ich, wir benutzten nun den Wagen, um 
in gemächlicher Ruhe von Herrn Dr. Helfer den Roman des 
Fräulein Amelie uns weiter erzählen zu lassen. — Nicht 
wahr, Papa, Herr Dr. Helfer soll uns begleiten? — und 
Sie — Herr Doctor — haben auch die Güts, es zu thun? denn 
um die Erzählung dürfen Sie uns nicht bringen! 
Der Kutscher wurde, da das allseitige Einverständnis 
vollständig vorhanden war, herbeicitirt, und bald saß die 
ganze Gesellschaft, etwas eng, aber desto traulicher, im ge 
räumigen Familienwagen und Dr. Helfer fuhr, aufgefordert 
dazu von den beiden Damen Augustin, trotz des finster blik- 
kenden Auges der Frau Pastorin, in seiner Erzählung folgen 
der Weise fort: 
Monsieur le comte de B. war einer der wenigen Adli 
gen gewesen, welche bei der durch die Beschlüsse ber berühm 
ten Pillnitzer Conferenz im August 1791, wodurch die Ein 
mischung des Auslandes in die Französischen Angelegenheiten 
der damaligen Zeit festgestellt wurde, durch ganz Frankreich 
entstandenen furchtbaren Volksaufregung noch auf ihren Gü 
tern zurückgeblieben waren und der Emigration des Adels, 
der jene Beschlüsse von Pillnitz zu Wege brachte und gegen 
den sich daher die Wuth des Volkes seitdem ganz besonders 
erhob, sich nicht angeschlossen hatten. Er war unter der 
Bevölkerung der zu seinem Grundbesitz gehörigen Ortschaften 
so beliebt, ja verehrt — und zwar mit Recht, da ihm'deren 
*) Anm. der Red. Wahrscheinlich der vom Prof. Bock in 
Leipzig empfohlene Eisenliqueur?!
	        
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