Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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Gleichheiten des Verfahrens und der Ansichten und Zwecke 
obwalten. Aber doch sind diese Verschiedenheiten, ja diese 
scheinbar schroffen Gegensätze, durchaus nicht einander 
aufhebende, sondern offenbar günstig ergänzende. Be 
trachten wir sie einmal darnach etwas näher, wenn auch 
hier nur oberflächlich. 
A. Man kann zunächst füglich als einander entgegengesetzt 
ansehen: die hhdriatische trockene Packung und den Schroth- 
schen nächtlichen, d. h. für die ganze Nacht bestimmten dicken, 
feuchten Einschlag*). Zweck und Wirkung sind bei beiden 
offenbar ganz verschiedene, geradezu entgegengesetzte. Dietrok- 
kene Prießnitz'sche Packung strebt an und erreicht: Schweiß 
erguß, also Bewegungsgang der Säfte von Innen nach 
Außen. Die Schroth'sche langdauernde, feuchte dagegen: 
Einsaugung von Wasserdunst und Durchdringung des Or 
ganismus von demselben in der Richtung von Außen nach 
Innen. Man sieht aber leicht, daß, so verschiedenartig diese 
Zwecke und Wirkungen sind, doch die eine Form da (in dem 
einen Falle), die andere dort (in dem anderen Falle) oder die 
eine zuerst und die andere nachfolgend (in ein und demselben 
Falle) theils von trefflicher örtlicher Nutzbarkeit sein kann, 
theils dem ganzen Organismus zu gute gehen wird und 
muß. 
B. Abwaschen oder Trockenabreiben ist die zweite 
Frage streitiger Art zwischen Prießnitz'scher und Schroth'scher 
Schule, in der wir — den Thermometer in der Hand, 
d. h. verschiedene Grade für verschiedene Individualitäten for 
dernd, — uns aus die Prießnitz'sche Seite stellen müssen. 
Denn wenn uns auch sehr viele specifisch Schrothisch behan 
delte Krankheitsfälle mit Ausgängen günstigster Art bekannt 
find, bei denen die, ohne Kräftigung der Haut nach den lang- 
dauernden Einpackungen mit Bad oder Abwaschung behandel 
ten Persönlichkeiten nicht blos völlig oder doch hauptsächlich 
pon ihren Leiden sich befreit sahen, sondern auch die von 
uns erwartete Reizbarkeit und Empfindlichkeit ihrer Haut ge 
gen Zugluft, Kälte und Wärme, ihrer Versicherung nach, 
nicht wahrzunehmen hatten, so vermögen wir uns doch schon 
in thesi von der Ansicht nicht zu trennen, daß, wie in der 
allgemeinen Natur Kälte und Wärme nützlich in ihrer Ab 
wechselung auf alles organische Leben einwirken, auch im spe 
ciellen Falle, wo längere Zeit Hitze auf einen Menschenkör 
per eingewirkt hat, zur Ausgleichung der durch dieselbe un 
vermeidlich herbeigeführten Ausdehnung, also Erschlaffung, der 
Haut, ein der Individualität angemessener Kältereiz zu fol 
gen habe, um die nöthige Zusammenziehung, d. h. die 
durch die Wärmeeinwirkung momentan verloren gegangene 
Energie der Nerventhätigkeit wiederherzustellen. In hypothesi 
aber, d. h. auf den einzelnen Fall angewandt, haben wir zu 
nächst auf die Erfahrungen aller der Völker hinzuweisen, welche 
noch jetzt in ihren socialen und resp. therapeutischen Gebräuchen 
auf die Hitzeanwendung entweder Kälte oder wieder Wärme 
folgen lassen. Man sieht hier fast durchweg diejenigen Völker, 
welche in rauherem Clima leben, nach solchen Hitzeanwendun- 
*) Die Prießnitz'sche Schule wendet zwar neben der trockenen 
auch die feuchte, stundenweise Packung bei Tage an; ja verhältniß- 
mäßig waltet diese auf je 2 —4 Stunden sich ausdehnende feuchte 
Packung mehr vor, als die trockene — ob mit Recht oder Unrecht, 
lassen wir hier dahingestellt sein —; aber der Zweck dieser feuchten 
Packung der hhdriatischen Schule ist doch in der Hauptsache derselbe, 
wie der der trockenen Packung: eine Erregung der äußeren Haut in 
ihren Nerven und Gefäßen und eine Säftebewegung mehr von Innen 
nach Außen, als umgekehrt, hervorzubringen. 
gen kaltes Waffer oder selbst Schnee gebrauchen, offenbar 
weil sie aus langjährigen Erfahrungen wissen, daß der schnelle 
Wechsel von Wärme und Kälte auf den Körper die Wider 
standsfähigkeit des Letzteren gegen rauhe Witterung zu heben 
im Stande ist, während die in wärmeren Climaten lebenden 
Nationen, z. B. fast alle sogen. Orientalen, in und nach 
ihren heißen Lufbädern mehr des warmen, als kalten Was 
sers zum Abwaschen sich bedienen — vielleicht mit aus mo 
ralischer Verweichlichung, aber gewiß auch aus dem. in solchen 
Gegenden erklärbaren Bedürfniß der Nichtanregung der Haut 
zu fernerer Thätigkeit, vielmehr zur Herabstimmung derselben 
in der ihr durch den vorangegangenen größeren, unge 
wöhnlichen Hitzereiz gegebenen Erregung. — Ob den Orien 
talen die entgegengesetzte Gewohnheit mit Nutzen beigebracht 
und vielleicht ihr ganzer Charakter dadurch einer Vortheilhaf 
ten Umänderung zugeführt werden könnte, wenn man ihnen 
das kalte Bad mehr schätzen lehrte, wollen wir uns, als mit 
den physischen Bedürfnissen in solchen Zonen zu wenig ver 
traut, nicht anmaßen, zu beurtheilen; aber daß für die Grade 
des gemäßigten Climas überhaupt, also zwischen dem 45. bis 
55. Breiten-Grade, kühle Waschungen und je weiter nörd 
lich, desto kältere Waschungen nach Hitze-Anwendungen (seien 
sie feucht oder trocken) nicht blos anwendbar, sondern unbe 
dingt naturgemäß und nützlich sind, möchte, eben aus der 
Betrachtung der Völkergewohnheiten, als unzweifelhaft hervor 
gehen. 
Dann müssen aber auch die in unserem Clima bereits 
gemachten diesfallsigen Erfahrungen berücksichtigt und als 
maßgebend anerkannt werden; es sind dies die beim Baden 
im Flusse (an heißen Tagen und mit heißer Haut — nach 
dem Sonnenbade —), aber noch mehr beim Schwitzen in den 
Wasserheilanstalten und bei der Hautanregung im russischen 
Dampfbade seit nun bald einem halben Jahrhundert gemach 
ten Beobachtungen und Erfahrungen. Wer das Flußbad 
unter angegebenen Verhältnissen oder die hhdriatischen Ein 
packungen oder das russische Dampfbad und die denselben 
nachfolgende Kühlung mit lauem oder (je nach Individuali 
tät) auch kaltem Waffer an sich in regelrechter Form pro- 
birt hat, wird einen derartig wohlthätigen und nachhaltigen 
Erfolg solcher Abwaschungen oder Abbadungen empfunden ha 
ben, daß er niemals wieder irgend eine Schwitz- oder nur 
Hauterregungs - Procedur ohne nachgängige laue, kühle oder 
kalte Abwaschung an sich vorzunehmen wünschen wird. 
Dies zusammengenommen, können wir nicht umhin, un 
sere Ansicht bezüglich des Abbadens oder Nichtabbadens nach 
Einpackungen dahin abzugeben, daß wir uns versichert halten, 
„die Wirkung einer Packung wird nachhaltiger und die ganze 
Procedur nicht blos annehmlicher, sondern auch nützlicher sein 
mit nachfolgender kühler Waschung, als ohne solche. Und 
wenn wir daher auch einer specifisch Schroth'schen Einpackung 
(also ohne nachfolgendes Bad oder Abwaschung) die Mög 
lichkeit der nützlichen Wirkung und die Erzielung der beab 
sichtigten Heilung durchaus nicht absprechen können und wol 
len, so steht uns doch so viel fest, daß die diessallsige hy- 
d riatisch e Behandlungsweise mindestens das cito und jucunde 
(schnell und angenehm heilen) vor dem Schroth'schen Verfah 
ren voraus hat, oft aber gewiß auch das tnto (das sichere 
Heilen), wenn man wenigstens auch das Nachhaltige der 
Kur darunter versteht. 
Ueberhaupt darf der Grund, der Sch roth zur Nicht-An 
wendung der kalten Bäder wohl hauptsächlich vermochte — 
die Uebertreibung der Kaltwasserkur, wie sie in den ersten
	        
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