Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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volle 12 Stunden zu widerstehen vermochte, bevor es unter 
lag. Bei den vorstehenden Antecedentien kann der traurige 
Ausgang dieses kurzen Kindeslebens nicht Wunder nehmen, 
vielmehr schien es Vielen unbegreiflich, daß man solch' zartes 
und schwaches Leben lediglich durch die größte Reinlichkeit 
und thunlichste Pflege verhältnißmäßig so lange zu erhalten 
im Stande war. 
Doch kehren wir wieder zu der Wöchnerin zurück. Wir 
hatten uns der anscheinend allzunatürlichen Hoffnung hinge 
geben, daß nach der einmal glücklich überstandenen Entbin 
dung die Heilung des Fußes mit Riesenschritten vorwärts 
gehen werde. Aber auch diese Hoffnung erwies sich als eitel. 
Kaum hatte nämlich die massenhafte Eiterung in etwas nach 
gelassen, als sich mm auf der entblößten Knochenhaut neues, 
sogenanntes wildes Fleisch zu bilden begann, welches abgesehen 
von dem unerträglichen Schmerze und dem gräßlichsten An 
blicke so sehr wucherte, daß die Haut über diese handbreiten 
„Granulationen" — wie es der Arzt nennt — sich nicht zu 
sammenziehen konnte. So machte die Heilung nicht nur keine 
Fortschritte, sondern selbe schien fast ganz unmöglich, zumal 
die Frau sich ja nicht einmal recht schonen konnte, indem sie 
jetzt auch noch ein neugeborenes, zudem krankes, unnatürlich 
auserzogenes Kind „füttern", säubern und sonst verpflegen 
und abwarten mußte, wobei sie, in all' und jedem auf sich 
selbst gewiesen, mit dem rechten Fuße auf den Fußboden ge 
stemmt, den kranken Fuß aber im Bette, mit dem oft jämmer 
lich schreienden und strampelnden Kinde in und über der 
Wiege manipulirte. Bei solch' übernatürlicher Anstrengung 
bei Tag und Nacht war eine schnelle Heilung allerdings eine 
Unmöglichkeit, und es mußte das beständig wuchernde, rohe 
Fleisch sehr häufig mit Lapis geätzt werden, weshalb noch 
viele Wochen nach dem Tode des Kindes vergingen, bis sich 
endlich die sämmtlichen Granulationen mit einer neuen Epi 
dermis überzogen hatten. Dies geschah jedoch nicht vollkom 
men. Eine kleine, immer nässende Stelle von runder, später 
dreieckiger Gestalt, blieb in der äußeren Knöchelparthie zurück 
und machte keine Miene, sich zu schließen. Nun entstand wie 
der eine peinliche, durch die Widersprüche der befragten Aerzte 
noch mehr gesteigerte Verlegenheit, ob die ganz kleine, aber 
stabile Wunde künstlich und gänzlich zugeheilt oder die Selbst 
heilung abgewartet werden solle? Beides schien seine Vorzüge 
und zugleich seine Bedenken zu haben. Die Chirurgen und 
Wundärzte wollten sofort an die feste, nach ihrer Versicherung 
binnen wenigen Tagen zu bewirkende Heilung schreiten, weil 
sonst dem Körper die besten! zur Ernährung benöthigenden 
Säfte, zum Nachtheile für die allgemeine Gesundheit, entzogen 
und die Leidende unnöthig lange gemartert werden würde. 
Die Doctores waren hingegen der Ansicht, die Wunde sei le 
diglich rein zu halten und sich selbst zu überlassen, indem die 
noch immer im Körper befindlichen schädlichen! Säfte voll 
ends ausgestoßen werden müßten, wornach sich die Wunde 
ohnehin von selbst schließen werde. Jede dieser ganz entge 
gengesetzten Annahmen scheint auf den natürlichsten Principien 
zu beruhen, und doch kann nur Eine davon die richtigere sein. 
Welche ist es aber? War das monatelange Nässen der 
Wunde ein Verlust edler, oder eine Ausscheidung schäd 
licher Säfte? Eine bestimmte, wissenschaftlich begründete Be 
antwortung dieser Frage wäre gewiß von allgemeinem Inter 
esse. Noch eine dritte Meinung wurde hinwieder von mehre 
ren Laien aufgestellt, die aus vielfachen Erfahrungen wissen 
wollten, derlei „Kinderfüße" dürften gar nicht verheilen, 
da sich sonst die an ihren regelmäßigen Abfluß gewohnten und 
nun daran verhinderten Schädlichkeiten an anderen, gewöhn 
lich edlen Organen, als Lungen re., absetzen und dadurch meist 
einen jähen Tod zur Folge haben. Läßt sich diese sehr ver 
breitete und erfahrungsmäßige Ansicht ohne mit der vorher 
gehenden Frage zu collidiren, ebenfalls wissenschaftlich begrün 
den? Was ist ferner eigentlich ein „Kindersuß"? Hat meine 
Frau auch wirklich einen solchen, oder ist das Alles nichts 
Anderes, als ein „bösartiger Rothlauf"? 
Meine Frau nahm den Rath der eigentlichen vootores 
an, reinigte die Wunde 2 — 3 Mal des Tages mit lauem, 
in der Regel ganz reinen Wasser (ausnahmsweise mit einem 
Aufgusse von sogenannten Käspappeln) unter Auflegen einer 
neutralen, selbst bereiteten Salbe von gelbem Wachs und Ta 
felöl aus die zumeist empfindlichen Theile, und so wartete 
sie ruhig ab, was die Zeit mit sich bringen werde. Ihre 
Ausdauer schien wohlthätig zu wirken, die Wunde schrumpfte 
nach und nach bis auf den Umfang einer Linse, später sogar 
auf den eines Stecknadelkopfes zusammen, und nach voller, 
seit ihrem Entstehen verlaufener Jahresfrist hat sich die Wunde 
allseitig mit Haut überzogen. Alsbald ging jedoch die Haut 
noch einmal auf, um die nässende Feuchtigkeit hinauszulassen, 
und sich nach einigen Tagen wieder zu schließen und, wie 
man hätte glauben sollen, endlich einmal wieder den status 
quo eines normalen Zustandes herzustellen. Damit würde 
alsdann die Sache, so traurig sie auch war, doch noch glück 
lich geendet haben. Dem ist aber durchaus nicht so: Die 
Wunde ist nun zwar seit Neujahr 1863, also über fünf Mo 
nate lang, geschlossen, aber der Fuß nach wie vor zur Bewe 
gung nicht zu gebrauchen, indem die Leidende sich aus den 
selben nicht stützen und damit, was man sagt, nicht „auftre 
ten" kann. Nachdem sie aber, wie eben besagt, den häus 
lichen Geschäften vorstehen und die meisten derselben verrichten 
muß, so schleppt sie sich nur mit größter Mühe trippelnd 
(hinkend) herum, wogegen der Fuß jeden Abend in der Knö 
chelgegend anschwellt und die ganze Nacht über mehr oder 
weniger, oft aber rasend wehe thut. Desgleichen wird jeder 
Anstoß und jedes Auftretenwollen durch einen heftigen Stich 
in der bezeichneten Gegend erwidert. Dennoch ist die Frau 
zu anhaltender Schonung und Ruhe nicht zu bewegen, indem 
sie vorgiebt, daß ihr die Bewegung wohler thut, als das Lie 
gen, welches ihr über alle Maßen unleidlich ist. Dieser Zu 
stand dauert also, wie gesagt, bereits fünf Monate, und ist 
sich seither völlig conffant geblieben. Nicht unerwähnt kann 
ich übrigens die auffallende Erscheinung lassen, daß, während 
der Fuß rings herum gräßlich verwüstet und die ganze Wade 
als Eiter ausgeronnen war, jene Stelle, wo vorhin eine Vene 
(ich glaube, es war eine solches als erstes Signal der nach 
folgenden Katastrophe gesprungen war, ganz unversehrt geblie 
ben ist, was mir als eine wunderbare Vorsorge der Natur 
zur Verhütung eines viel gefahrvolleren Ausganges erscheint. 
Es erübrigt nur noch, Einiges aus dem Vorleben meiner 
armen Frau hier anzuführen: Dieselbe stammt von gesunden, 
bereits verstorbenen Eltern, die übrigens beide ein hohes Alter 
erreichten. Der Vater, ein Forstmann, starb an Altersschwäche, 
die Mutter aber muthmaßlich an einer Lungenkrankheit. Sie 
war sehr corpulent, und erst kurz vor dem Tode magerte sie 
stark ab. Meine Frau war von Haus aus (hinsichtlich der 
Kost) an ein Wohlleben, doch auch fortwährende Beschäftigung 
gewohnt, — die sie sich eben gar nicht mehr abgewöhnen 
kann — hatte etwa in ihrem 20. Lebensjahre ein Nerven- 
fieber überstanden, war außerdem immer gesund und wohlge 
staltet, hat jedoch etwas spät (im 36. Lebensjahre) geheirathet,
	        
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