Volltext: Der Naturarzt 1869 (1869)

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die Mutter auch in Bezug auf die Veredlung des Gemüthes 
ihres Säuglings durch ihre Brust auf denselben einzuwirken 
im Stande ist.·... 
„Sicher nicht ganz mit Unrecht behaupten daher die 
Weisen des Alterthums, daß mit der Muttermilch auch der 
Mutter Unschuld und Tugenden in die Adern des Säuglings 
überströmen.“ 
S. 202 verwirft der Verfasser den Spirituosengenuß 
der säugenden Mütter, bez. Ammen mit folgenden Worten: 
„In den Findelhäusern, wo die Ammen oft drei Kinder 
gleichzeitig stillen müssen, pflegt man die dazu nöthige Milch— 
menge durch Stärkemehl haltige Nahrung und den Genuß 
großer Mengen Biers zu erzielen. Daß eine auf solche Weise 
gleichsam künstlich (krankhaft) erzeugte Milch viel dünnflüs— 
figer und minder nahrhaft sein müsse, braucht wohl nicht 
erst erwiesen zu werden. Doch die Milch, welche unmittelbar 
nach dem Genusse des Bieres in die Brüste einströmt, ent— 
hält noch überdies eine große Menge jenes Stoffes unver— 
ändert, welches dem Biere seine berauschende Kraft gibt, so 
daß dieser auch seine Wirkung auf den Säugling nicht ver— 
fehlt. Daß nur eine, wenn auch sehr milde Betäubung, wenn 
sie öfter und längere Zeit auf das Gehirn des zarten Kindes 
einwirkt, doch endlich schädliche Folgen nach sich ziehen könne, 
ist einleuchtend. Es geht also daraus hervor, daß der Bier— 
genuß die Mutter- oder Ammenmilch nicht nur nicht verbes— 
sert, sondern mehr oder weniger verschlechtert und daher im 
Allgemeinen (und Besondern) nicht zu billigen und zu 
dulden sei.“ 
S. 220 wendet sich Verfasser gegen den Saugbeutel 
(oder Sauglappen, Zuzel, Zulp, Schnuller): „Die 
großen Nachtheile, welche diesem garstigen Vermächtnisse einer 
noch sehr rohen und unwissenden Zeit entspringen, lassen sich 
in Kürze folgendermaßen bezeichnen: Der Sauglappeu stört 
vor Allem die Verdauung, indem das beständige Saugen 
daran einem ununterbrochenen Trinken und Essen gleicht, 
wobei dem Magen keine Zeit gelassen wird, gehörig zu ver— 
dauen (bez. auszuruhen). Je öfter der Zuzel in die dazu 
bestimmte Flüssigkeit eingetaucht wird, desto mehr wird dieser 
Uebelstand begünstigt. Bleibt aber der Zuzel längere Zeit in 
der Mundhöhle liegen, so werden die in demselben enthaltenen 
Substanzen, als Zwieback, Brod, Milch und Zucker sehr 
leicht sauer und verursachen den Kleinen alsdann saures Er— 
brechen, wässerige Durchfälle und Schwämmchen. 
Drer goarstige Lappen verunreinigt den Mund Kleiner 
auch wohl noch dadurch, daß manche Kindsleute die eckelhafte 
Gewohnheit haben, ihn anstatt in eine frische Flüssigkeit zu 
tauchen, mit dem eigenen Speichel zu befeuchten und also be— 
geifert den Kleinen in den Mund zu stecken. Außerdem 
dient diese Unart auch dazu, den Mund des Kindes zu ver— 
unstalten, weil er meistens zu groß gemacht wird und sogar 
zu groß gemacht werden muß, um die Kinder nicht der Gefahr 
auszusetzen, ihn hinabzuschlucken und daran zu ersticken, wie 
dieses auch wirklich leider schon öfter geschehen ist. Das Zahn— 
steisch wird durch den immerwährenden Druck des Lappens 
gereizt und verdichtet, so daß das Durchbrechen der Zähne 
erschwert werden muß. Die bereits hervorgebrochenen Zähne 
werden durch den fortgesetzten Gebrauch desselben leicht ver— 
schoben, stets verunreinigt (angesäuert), ihres Schmelzes be— 
raubt und angefressen. Götz bemerkt mit vollem Rechte: 
daß man überall, wo diese häßliche Unart wu— 
chert, Kinder mit zerfressenen, schiefgewachsenen 
und unförmlichen Zähnen findet, und daß diese 
Zerstörungen zum größten Theile dem Zuzel 
uzuschreiben sind. Daß der Zuzel selbst bei einer künst— 
ichen Auffütterung ganz und gar entbehrlich sei, kann man 
äglich an Tausenden von Kindern sehen, welche, ohne ihn 
emals gekostet zu haben, unter der Pflege zärtlicher und 
aufgeklärter Mütter herrlich gedeihen. Wir würden daher 
uinsere Leserinnen zu beleidigen fürchten, wenn wir nach dem 
hereits Gesagten sie noch eigens auffordern wollten, dieses 
eckelhafte Ueberbleibsel einer gedankenlosen Zeit aus der Kinder— 
stube zu verbannen.“ 
Kleinere Mittheilungen. 
Kaltes oder warmes Rlima für Lungenkranke? Daß 
die medizinische Heilwissenschaft — man darf wohl sagen — 
noch nach keiner einzigen Richtung ihrer verschiedenen, von 
Kranken in Anspruch genommenen Thätigkeit zu einem kla— 
ren, bewußten, auf felsenfester Ueberzeugung beruhenden Grund— 
atze vorgeschritten ist, lehrt ihre neuere und neueste Geschichte 
mehr und mehr. Von Jahrzehnd zu Jahrzehnd, ja noch 
rascher neuerdings sieht sie sich fort und fort genöthigt, eine 
Zeit lang hoch beschworene Glaubenssätze wieder fallen zu 
lassen, als wissenschaftlich unhaltbar, als mit neuerer Er— 
fahrung im Widerspruch, als verderblich und mörderisch für 
ihre Kranken. Man verfolge das Thun und Treiben der 
forschenden und strebenden Aerzte nur in ihren Zeitschriften, 
wo sie offenherzig ihre Ansichten und die Ergebnisse ihrer 
Experimente sich gegenseitig mittheilen — man wird da oft 
wunderliche Bekenntnisse zu hören und zu lesen bekommen 
und noch heute gilt, was schon vor 50 Jahren Prof. Dr. 
Med. Hecker in seiner Schilderung der Theorien, Systeme 
und Heilmethoden der Aerzte, 4. Auflage 1819, S. 5 un— 
verblümt aussprach: „Was nach der einen Theorie Wahr— 
heit ist und angeblich erwiesen wird, das widerlegt und leugnet 
die andere; ein Heilverfahren, das die eine für nützlich er— 
klärt, nennt die andere geradezu schädlich und verwirft es; 
ja es fehlt nicht an Beispielen, daß die Aerzte Kurmethoden 
und einzelne Mittel mörderisch nannten, deren Heilsamkeit 
sie wenige Jahre vorher nicht genug preisen konnten.“ Dr. 
Girtanner meinte zu gleicher Zeit auch ganz ähnlich (in 
Ausführl. Darstellung des Brown'schen Systems der prakt. 
Heilkunde, II. Bd. S. 600): „Der medizinische Heilapparat 
ist weiter nichts als eine sorgfältige Sammlung aller Trug— 
schlüsse, welche die Aerzte von jeher gemacht haben.“ Als 
einen solchen Trugschluß haben wir neuerdings auch wieder 
den zu bezeichnen, nach welchem den Lungenkranken und na— 
mentlich den Lungenschwindsuchtskranken vor Kälte abzurathen 
und und der Aufenthalt namentlich zur Winterszeit in wär— 
meren Himmelsstrichen (Italien, Aegypten, Algier, Azoren 
u. s. w.) anzuempfehlen sei. Man beobachtete nämlich, daß 
in höheren Berggegenden die Lungentuberkulose eine höchst 
seltene Krankheit ist. Darauf hin wurde der Versuch ge— 
macht, Tuberkelkranke sowohl Sommers- wie Winterszeit in 
solch tuberkelfreier Zone zubringen zu lassen und — siehe 
da — der Erfolg war ein verhältnißmäßig durchwegs gün— 
stiger. Heut zur Stunde ist z. B. Davos, ein kleines Dorf,
	        
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