Volltext: Sechstes Bändchen (6. 1916)

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widerwärtigen Aussehens durchaus kein Kretin und stand an Begabung niemanden 
nach. Sie wäre recht mitteilsam gewesen, wenn man sie nur lieber angehört 
hätte und erzählte gerne von ihren geringen Erlebnissen. Eine rührende Teil- 
nahme legte sie für trauernde Familien an den Tag, welche einen Verstorbenen 
zu Grabe trugen und es gehörte zu den Seltenheiten, wenn nicht das Annamirl 
als Allerletzte im Zug den weiten Weg auf den Haslacher Friedhof mitgemacht hätte. 
Dabei betete sie mit großer Andacht für den Verstorbenen und nützte ihm vielleicht 
mehr als mancher andere weniger auf das Gebet bedachte Begleiter. Nun wird die 
gute Seele lange schon hinübergegangen sein. Ihr Todestag und Ort des Sterbens 
jedoch würde schwer zu erfragen sein, weil mir ihr eigentlicher Name unbekannt ist. 
 
Der Mehl-Sepp. 
Auch der Bettler wird berühmt und sein Andenken ist gesichert um so mehr, 
je einfacher und monotoner sein Leben war. Und so war das Leben des „ Mehl-  
Seppen" in Aigen. Gekannt hat den Josef Lechner in Aigen und in 
weiter Umgebung jung und alt, hättest du ihn aber „Lechner" genannt, so 
hätten dich nur wenige verstanden. „Mehl-Sepp" nannte jedermann den mittel- 
großen, ziemlich stark gebauten Mann mit dem mehlbestaubten Gesicht und buschigen 
Augenbrauen, angetan mit sauberer, wenn auch ärmlicher Hose, Weste und ziem- 
lich langem Schösselrock und einem blauen, hoch hinaufgebundenen Schurz und der 
braunen „Pudelhaube". So war er im Winter wie im Sommer, nur daß er 
im Sommer keine Schuhe trug. Immer im gleichen Tempo, den Blick zu 
Boden gesenkt, wandelte er von Dors zu Dorf, von Haus zu Haus, öffnete über- 
all still ein wenig die Türe und sagte sein „bitt gar schön um a Mehl" und 
wartete geduldig auf die Gabe. Er empfing das Schäufelchen voll Mehl, sprach 
„vergelts Gott" und ging weiter. Nur selten konnte man ihn zu folgendem kurzen 
Dialog bringen: „Wozu brauchst Du denn das Mehl?" — „Auf a Knoden!" — 
„Was tust Du denn mit den Knoden?" — „Essen!" — Dann war Schluß. 
Es müßte bewiesen werden, ob der Sepp außer Mehl auch andere Gaben ange- 
nommen hätte; daher gebührte ihm der Name „Mehl-Sepp" mit größerem Rechte, 
als einem Jungadeligen sein Adelsprädikat. Er dürfte jetzt schon lange tot sein, 
aber gehen sah man ihn sicher in der ganzen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 
und niemand hätte sagen können, ob sein Aussehen im 20. oder 60. Lebensjahre 
verschieden gewesen sei. Wenn sein tausendfältiges Jahrhunderts Gott" belohnt wird, 
dann ist vielen barmherzigen Bäuerinnen im Himmel ein guter Platz gesichert. 
Sein Beispiel aber kann uns in der jetzigen harten Kriegszeit und ihrer Not noch 
lehrreicher werden als das Beispiel von Päpsten und Königen: „Man nähert sich 
auch mit Vertrauen den Bäuerinnen und bittet um ein Schäuflein voll Mehl, 
so lange sie selbst noch eines haben", was jetzt im Jahre 1917 sehr fragwürdig wird. 
In der Gegend um Kollerschlag ist noch heute dem Volksmund der Name 
 
Drucker Franzl 
geläufig, dessen Träger aber nur mehr der Sage angehört. Man weiß daher nicht, 
wann er eigentlich gelebt und woher er gewesen ist, aber noch zeigt man im 
Stratbergerwald den „Drucker-Franzl-Stein", das ist ein Felsen mit einer Höhle, 
in welcher dieser als Räuber gefürchtete Mann gehaust haben soll. Da die 
Gegend um Kollerschlag noch sehr waldreich und die Gehöfte von einander sehr 
entlegen waren, soll der „Drucker-Franzl" seine verwegenen Räubereien ausgeführt 
haben. Oft geschah es, daß ihn Leute, die des Weges unkundig und furchtsam
	        
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