Volltext: Erstes Bändchen. Beiträge zur Landes- und Volkskunde des oberen Mühlviertels. (1. 1912)

— 49 — 
daß manchmal zur Nachtzeit über dem Jungfernsee oder auch auf der Donau eine 
Frauengestalt ohne Kopf erschien (auch die ältesten und abgehärtetsten Schiffleute 
waren stets bei diesem Anblicke vor Schrecken), die, wenn auch ohne Kopf, zu 
singen begann: 
 
„Nicht in stiller, heiliger Erde, 
Frei von Leiden und Beschwerde 
Darf ich ruh'n. 
Wenn die Donau aufwärts trüge 
Schiffe ohne Roß und Züge 
Könnt ich ruh'n. 
Wenn im Blitz von Augenblicken 
Ost und West sich Grüße schicken, 
Werd ich ruh'n. 
Wenn die Kühe auf dem Rasen 
In dem Jungfernsee einst grasen, 
Kann ich ruh'n. 
Ach, so muß ich immer suchen, 
Hör' die Mutter immer fluchen, 
Kann nicht ruh'n." 
 
„Das ist die Rosa", so murmelten immer die vor Furcht zitternden Schiffs- 
leute, "das ist die Rosa, auf der durch den Fluch der Mutter die Tanzunruhe 
lastet, bis daß die Donau selbst ihre Schiffe auswärts zieht, bis daß der Ost ver¬ 
kehret mit dem Westen, bis daß Rinder weiden auf dem Jungfernsee." „Sind diese 
Dinge möglich, so mag der Fluch von dir genommen werden," so hatte bekanntlich 
die im Sterben der Tochter fluchende Mutter beigesetzt. 
 Alle Welt hielt diese drei Dinge für unmöglich, doch sie wurden möglich, 
traten tatsächlich ein und Rosa kam endlich zur ersehnten Ruhe, nachdem sie über 
70 Jahre keine solche gefunden hatte. Das Befreiungsjahr für sie war 1838, in 
diesem Jahre erfüllten sich die von der Mutter aufgestellten Bedingungen von der 
letzten bis zur ersten. Ein zweimaliger sehr heftiger über die Donauleite nieder¬ 
gegangener Wolkenbruch hatte so viel Felsblöcke und Gerölle nach Grafenau gebracht, 
daß man damit, um die ohnedies wenigen Felder und Wiesen zu räumen, den 
Jungfernsee anfüllte, der dadurch zuerst zur Rohrwiese wurde, 1838 aber schon 
einen festen Weideplatz abgab. Gleichzeitig brachte die „Linzer Zeitung" die Nach¬ 
richt, daß die österreichischen Telegraphenleitungen bis zur Westgrenze gegen Deutsch¬ 
land und Frankreich ausgebaut seien. So hieß es jetzt freudig in der Grafenau: 
Schon weiden Rinder auf dem Jungfernsee, schon verkehrt der Ost mit dem Westen", 
aber man fragte sich bange: „Wird, damit endlich Rosa und mit ihr ganz Grafenau 
Ruhe bekommen, denn doch je einmal die Donau selbst ihre Schiffe aufwärts ziehen?" 
Aber auch das geschah, und zwar noch im gleichen Jahre, da 1838 das erste Dampf¬ 
schiff (einer bayrisch-württembergischen Gesellschaft) stromaufwärts fuhr. Die ganze 
Pfarrgemeinde Niederkappel hatte sich in Grafenau versammelt, um staunend Zeuge 
zu sein von diesem Ereignisse. 
 Die für das Aufhören des Fluches gestellten Bedingungen waren erfüllt, und 
so war denn jetzt endlich die Zeit der Ruhe gekommen für die verstorbene Rosa 
und für das lebende Donauweibl. Rosa's Totenkopf konnte jetzt anstandslos nach 
Niederkappel gebracht werden und das Donauweibl, das 105 Jahre alt geworden 
war, richtete sich jetzt zum Sterben, verschied und wurde zugleich mit Rosa's Toten- 
kopf auf dem Friedhofe von Niederkappel beerdigt.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.