Die inneren Verhältnisse.
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land noch Österreich-Ungarn einen so starken Zuwachs an Polen
brauchen konnten.
Die Schaffung eines selbständigen Polens war ebenfalls für die
Monarchie und für Deutschland eine Gefahr und daher ausgeschlossen.
Ein selbständiges Polen hätte unbedingt auf den Anschluß aller von
Polen mitbewohnten Gebiete Österreichs und Deutschlands Hinge¬
arbeitet, hätte also eine polnische Irredenta gezüchtet.
Die polnische Frage schien somit für Österreich-Ungarn und
Deutschland unlösbar, wie sie sich später auch erwiesen hat. Der be¬
stehende Zustand schien noch der beste zu fein.
Ein Krieg mit Rußland hatte daher für Österreich-Ungarn kein
Ziel, keinen Zweck.
Diese Zwecklosigkeit jedes Krieges Österreich-Ungarns gegen
Italien, auf dem Balkan und gegen Rußland traf mit den entgegen¬
gesetzten zielvollen Bestrebungen dieser Länder zusammen.
Damit wird die Schwäche unserer Diplomatie, unserer Politik
klar. Sie war zu abhängig von den inneren Verhältnissen, von dem
Willen der österreichischen und der ungarischen Regierung. Ein so ver¬
worrenes Staaten-Gefüge konnte keine kraftvolle Politik machen.
Nur ein „Mann", der vorerst die inneren Verhältnisse beherrscht
hätte, der zuerst den Willen beider Staaten der Monarchie fest in seine
Hand gezwungen hätte, wäre imstande gewesen, eine kraftvolle Politik
nach außen zu führen.
Interessant ist, daß dem Kaiser Franz Josef der Ausspruch zu¬
geschrieben wurde: „Mein Unglück ist es, daß ich. keine Männer finden
konnte."
Abgesehen davon, daß der unbescheidene Wunsch nach der Mehr¬
zahl „Männer" vermuten läßt, daß man über den Begriff des Selten-
heitswesens „ein Mann" nicht ganz klar war, trifft der Ausspruch
das Richtige. Die Schuld aber, daß man keinen „Mann" fand, lag im
Charakter des Monarchen.
Man ersehnte einen „Mann", aber man wollte ihn nicht. Wenn
jemand nur enffernt an den Begriff „Mann" erinnerte, wenn er die
Eigenschaften zeigte, die fast immer Begleiterscheinungen der Männ¬
lichkeit sind: Offenheit, Rücksichtslosigkeit, kraftvolles Auftreten,
Selbstgefühl, oft auch eine gewisse Formlosigkeit, dann war er un¬
bequem, unbeliebt und kam gar nicht zur Geltung — denn man liebte,
an die Bedienung durch bequeme Lakaien gewöhnt, nur Lakaiennaturen.