zwang, mit diesen Anschauungen und Kräften sich zu ver¬
gleichen. Weder dem Liberalismus noch dem Nationalis¬
mus, diesen Grundkräften der Zeit, in die er hinein wuchs,
hat er sich je ergeben. Gleichwie die römische Kirche nie¬
mals eine Position, die sie zu räumen genötigt ist, wirklich
auf gibt, wie sie ihre fundamentalen Lehren und Grund¬
sätze niemals verläßt, selbst wenn sie genötigt ist, ein
„tolerari posse“ auszusprechen, ganz ähnlich verhielt sich
auch Franz Joseph den Kräften gegenüber, die er aner¬
kennen mußte, wTollte er seine Lebensaufgabe, die Erhal¬
tung des Erzhauses und des Kaiserreiches, nicht in Gefahr
bringen. So wurde er konstitutioneller Monarch in Ungarn
sowie im österreichischen Erbstaate und handelte von da
ab als solcher. In Ungarn band ihn zeitlebens der Königs¬
eid. In Österreich erleichterten es ihm Menschen und Um¬
stände, die Einrichtungen der Verfassung, die er gegeben
hatte, praktisch so zu gestalten, daß alles das, was für
ihn das Wesen der kaiserlichen Macht bedeutete, seinem
Empfinden nach durch diese Verfassung gewahrt blieb.
Daß diese Verfassung zu dem innersten Wesen des öster¬
reichischen Völkerstaates mit jedem Jahrzehnt in immer
schärfer ausgesprochenen Widerspruch geriet und daß die
magyarische Oligarchie ihre Parlamentsherrschaft zur poli¬
tischen Nullifizierung der Millionen von Nichtmagyaren
völlig ausnützte, war ihm allgemach klar geworden. Den¬
noch gewährte er den Bestrebungen zur Föderalisierung
Österreichs keine ernstliche Unterstützung, weil er von
ihr nicht ganz ohne Grund eine Schwächung der kaiser¬
lichen Macht und der zentralen Gewalt befürchtete. Der
magyarischen Uberhebung, zu der durch den Ausgleich
von 1867 der Grund gelegt war, setzte er sein Veto erst
entgegen, als der ungarische Nationalismus das gemein¬
same Heer aufzulösen sich anschickte. Franz Joseph be¬
trachtete eben die von dem konstitutionellen Prinzip ge¬
tragene politische Freiheit der Völker nur insolange als
zulässig und bindend, als die im gemeinsamen Heer und
in der äußeren Politik ihm zugesicherten Prärogative von
den Völkern und ihren politischen Parteien nicht verletzt
wurden. Denn nur durch diese hielt er das Reich und die
dynastische Macht tatsächlich völlig gesichert. Deshalb
focht ihn die fortschreitende Degeneration des Parlamen¬
tarismus in beiden Ländern der Monarchie nicht allzu
30 Redlich, Kaiser Franz Joseph
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