Volltext: Kaiser Franz Joseph von Österreich

die sehr elastischen Bestimmungen der Vereins- und Ver- 
sammlnngsgesetze im ganzen Staate durch seine Bezirks¬ 
hauptmänner und Polizeidirektionen im freiheitlichen 
Sinne auslegen und anwenden ließ. So kam es, daß die 
Ära Koerbervon breiten Schichten der Bevölkerung, 
vor allem von der Arbeiterschaft, als eine Zeit dank¬ 
bar empfundener Lockerung des noch unter Taaffe sorg¬ 
sam aufrecht erhaltenen, aus der Epoche der Selbstherr¬ 
schaft stammenden Polizeiregimes angesehen wurde. Mit 
den Führern der Sozialdemokratie unterhielt Koerber ge¬ 
radezu freundschaftliche Beziehungen und bewies auch 
durch die Tat seine ausgesprochen modernen Anschau¬ 
ungen in der Sozialpolitik, was ihn'natürlich nicht hin¬ 
derte, auf verschiedensten Wegen die Entwicklung der 
österreichischen Industrie mit größtem Verständnis zu 
fördern, daher er sich auch bei den Großunternehmern 
volles Vertrauen und hohe Wertschätzung erwarb. Koerber 
hatte trotz seiner rein bürokratischen Laufbahn immer 
mit den großen Kräften des modernen Lebens in inniger 
Fühlung gestanden. Das alles gibt ein Bild von den 
großen Fähigkeiten und der unleugbaren Produktivität 
seiner Persönlichkeit. 
Daß er sich nicht zu einem großen Staatsmann entfaltet 
hat, war gewiß zum großen Teile Schuld der unsagbar 
schwierigen Verhältnisse im Reiche Franz Josephs und 
ganz besonders in seiner österreichischen Hälfte. Dieses 
ganze Regierungssystem blieb aber doch schließlich nur 
ein, allerdings sehr witzig ersonnenes und schlau durch¬ 
geführtes, politisches Gaukelspiel, das ein hochbegabter 
Staatsmann, der die Menschen und Umstände seiner Zeit 
geschickt zu verwenden wußte, vor der ganzen Öffentlich¬ 
keit aufführte, ohne dabei von oben oder unten ernsthaft 
gestört zu werden. Wie sehr die moralische Autorität der 
Regierung und das Ethos des ganzen öffentlichen Lebens 
schließlich durch diese Regierungsweise gemindert und 
geschwächt wurde, liegt auf der Hand. Von da her rührt 
die tiefe Depravierung der parlamentarischen Volksver¬ 
tretung Österreichs. Die Abgeordneten erschienen ihrer 
Wählerschaft mehr und mehr bloß als ihre Agenten und 
Anwälte, deren praktische Erfolge von der Gunst der 
Regierung oder deren Furcht vor der betreffenden Persön¬ 
lichkeit abhingen. Daß dabei der Rest des von den Libe¬ 
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