Volltext: Kaiser Franz Joseph von Österreich

erreichte Fülle physischer, geistiger unid seelischer Kräfte 
etwa um das fünfzigste Lebensjahr dem Manne aufzu¬ 
prägen pflegt. Am Eingang dieser Periode ist Franz Jo¬ 
seph ganz erfüllt von dem Gedanken der Rekonstruktion 
des Reiches zum Zwecke der Wiedergewinnung voller 
Aktionskraft in der Außenpolitik. Er zeigt sich bereit, zu 
diesem Ende seinen Überzeugungen und selbst seinem Ge¬ 
wissen die größten Opfer aufzuerlegen. Dies tat er, indem 
er den ihm in tiefster Seele widersprechenden, wider¬ 
wärtigen Liberalismus, den sogenannten „Freisinn“ der 
modernen Denkweise zum Hauptwerkzeug_der Reform des 
Reiches annimmt und ziemlich unbehindert arbeiten läßt. 
Die Durchführung der Ausgleichsgesetze in beiden Staa¬ 
ten wird also den liberalen Parteien der beiden nunmehr 
als „Staatsnationen“ anerkannten Völker, der Magyaren 
in der östlichen und der Deutschen in der westlichen 
Reichshälfte, anvertraut, und zwar in beiden Staaten äußer¬ 
lich in derselben Form: nämlich in der Gestalt eines streng 
parlamentarischen Ministeriums. In Ungarn war diese Ent¬ 
lehnung des Grundprinzips politischer Freiheit von Eng¬ 
land schon 1848 erfolgt und wurde dort als die natür¬ 
liche, wenn auch erst verspätet eingetretene Folge aus 
dem altfeudalen ungarischen Staatsrecht hingestellt, was 
der politischen Mentalität des durch und durch historisch 
und aristokratisch empfindenden Magyarenvolkes ent¬ 
sprach. 
In Österreich hatte sich dieser vollkommene Bruch 
mit der Geschichte des seit der Schlacht am Weißen 
Berge schrittweise aufgebauten Fürsten- und Beamten¬ 
staates in der Gestalt der Dezemberverfassung von 1867 
vollzogen, die genau in den Bahnen des französisch-belgi¬ 
schen Konstitutionalismus einherging und durch die Ein¬ 
führung des Prinzips der Ministerverantwortlichkeit die 
Brücke zu einer streng parlamentarischen Regierung ge¬ 
funden zu haben hoffte. Franz Joseph besaß daher von 
jetzt an nicht weniger als drei selbständige Regierungen: 
denn zu den beiden Staatsregierungen trat nun die gem ein - 
same, die österreichisch-ungarische Regierung, die aus dem 
Kriegsminister, dem Minister des Äußern und dem soge¬ 
nannten Reichsfinanzminister bestand. Obgleich auch diese 
Regierung sowohl in Österreich als auch in Ungarn als 
politisch verantwortlich galt, es auch mit Rücksicht auf 
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