Volltext: 1910 - 1912 (Zweiter Band / 1922)

zu erkennen, welche der letzteren in den Vordergrund gestellt erscheinen, 
für welche daher Rußland eben gesonnen ist, das Schwert zu ziehen. 
Im wesentlichen wird zu beurteilen sein, ob Rußland das Schwer¬ 
gewicht auf seine asiatische oder auf seine europäische Politik verlegt, 
weil vor allem dies maßgebend dafür ist, ob und inwieweit dieser Staat 
als Gegner der Monarchie in Betracht kommt. 
Momentan scheint das Charakteristische der politischen Lage Ru߬ 
lands in dem Bedürfnis nach Sammlung und Retablierung von den 
Folgen des unglücklichen japanischen Krieges zu liegen; dies prägt 
sich umsomehr aus, seitdem der Zar, die Iswolskysche Politik diploma¬ 
tischer Winkelzüge und Intrigen verlassend, sich den Anschauungen 
seiner militärischen Berater, vor allem des Generals Suchomlinow, 
zugewendet hat. 
Die Entblößung des Gebietes westlich der Weichsel von größeren 
Truppenmassen, die Formierung einer für alle Eventualitäten in Betracht 
kommenden Zentralarmee, die voraussichtliche Verlegung des Auf¬ 
marsches aus dem Weichselland gegen Osten, bei Schaffung einer für 
die Verbindung sorgenden Befestigungsgruppe, die Vermehrung der 
sibirischen Armeekorps, die Ausgestaltung der sibirischen Bahn sind 
Maßnahmen, welche darauf hinweisen, daß Rußland ebenso zu militä¬ 
rischem Auftreten in Europa, wie zu solchem in Zentralasien und in Ost¬ 
asien bereit sein will. 
Überdies hat es besondere Vorsorgen für Finnland und für den 
Kaukasus getroffen. 
Gelänge es, Rußland dauernd in Asien zu engagieren, so stünde zu 
hoffen, daß es in Europa als Gegner nicht in Betracht kommt, man also 
freie Hand für alle jene Aktionen hätte, welche ansonsten zu einem 
feindseligen Eingreifen Rußlands führen müßten; nur müßte man dann 
auch diesen Vorteil nützen. 
Ist aber ein solches Engagement Rußlands in Asien nicht gesichert, 
so kommt es darauf an, jene Interessengegensätze zu erwägen, welche zu 
einem Konflikt mit Rußland führen könnten; sie betreffen: 
Die Meerengenfrage, respektive die Festsetzung Rußlands an den 
Meerengen (Konstantinopel) und die damit bedingte Gefährdung der 
ö.-u. Interessen auf der Balkanhalbinsel und im östlichen Mittelmeer; 
die Wacherhaltung der großserbischen Idee unter russischer Patro¬ 
nanz und im Zusammenhang damit 
die Förderung der souveränen südslawischen Staaten, um sie als 
Verbündete gegen die Monarchie auszunützen, ferner in absehbarer Zeit 
Gebietserwerbungen in Galizien, speziell in dem von den Ruthenen 
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