Volltext: 1910 - 1912 (Zweiter Band / 1922)

Dieses bequem gelegene »neutrale Ausland« wird seit Wochen durch 
eine Anzahl deutscher Offiziere bereist, die den schon längst vorbereiteten 
Kundschafts-, beziehungsweise Nachrichtendienst für den Kriegsfall über¬ 
prüfen, vervollkommnen und die letzten Anordnungen treffen, damit der 
Generalstab im geeigneten Augenblick rasch und sicher bedient werde. 
Die große deutsche Kolonie in Brüssel und die vielen in Belgien se߬ 
haften reichsdeutschen Familien — meist kleine Leute der Arbeiterklasse — 
erleichtern diese Vorbereitungen wesentlich. 
Die ähnliche Rolle wurde natürlich Belgien von Frankreich zugedacht, 
das sich auch dort eine sichere Basis für den Nachrichtendienst schuf. 
Daß der deutsche Generalstab auch in dieser Richtung schon früher 
sehr geschickt arbeitete, scheint mir aus dem Zugeständnis eines deutschen 
höheren Generalstabsoffiziers hervorzugehen, der mir hier sagte, daß das 
Märchen von den rettenden Zeitungsnotizen über den Abmarsch der 
französischen Armee von Chalons nur für die Außenwelt und die 
Geschichte erfunden sei, vor allem aber für die Franzosen selbst. Wenige 
Stunden nachdem die Bewegung angeordnet war, wußte man bei der 
deutschen Heeresleitung davon und konnte nur so die gewaltige Arbeit 
leisten und fordern, die der eigene Rechtsabmarsch in seinen Vor¬ 
bereitungen, die sich auf die kürzeste Zeit zusammendrängten, bedingte. 
Jedenfalls faßt man in Deutschland die heutige Lage sehr ernst auf, 
und rechnet absolut nicht mit Sicherheit damit, daß, wenn die Gegen¬ 
sätze zwischen Serbien und uns mit den Waffen ausgetragen werden 
müssen, Rußland neutral bleibe. Daß aber dann Deutschland, Frankreich 
und Italien auf den Plan treten, sei sicher. Und England würde abwarten, 
bis es sicher weiß, auf welcher Seite sein größter Profit zu holen sei. 
Das ist in großen Zügen das Bild der augenblicklich in Brüssel 
vorherrschenden Auffassung. 
Genehmigen E. E. den Ausdruck meiner respektvollsten Verehrung. 
V i d a 1 e, Oberst.“ 
Begreiflicherweise habe ich dieses Schreiben mit sehr ernsten 
Gedanken gelesen, da es meine Befürchtung, daß Österreich-Ungarn die 
Momente zum Handeln versäumt habe und einer gefahrvollen Kompli¬ 
kation entgegentreibe, zu bestätigen schien. Allerdings handelte es sich 
um die Äußerungen einer Frau, bei der das Temperament, vielleicht auch 
die Absicht, im Interesse Rußlands einzuschüchtem, mitsprechen mochte, 
und es blieb immerhin fraglich, ob man am Zarenhofe wirklich gewillt 
sein würde, den Untergang des Reiches und der Dynastie mit solcher 
Leichtigkeit in Kauf zu nehmen. 
Man hat es 1914 — gegen jedwede Vernunft — tatsächlich getan. 
Die Folgen sind nicht ausgeblieben! 
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