Volltext: 1910 - 1912 (Zweiter Band / 1922)

Die Frau des deutschen Gesandten Herrn von Flotow ist eine 
enragierte Russin; Witwe des im mandschurischen Feldzug gefallenen 
Generals Graf Keller, geborene Prinzessin Schahowskoy, wurzelt sie fest 
im Moskowitertum. Sehr vermögend, übersiedelte sie als Witwe nach 
Berlin, um den Wirren in ihrer Heimat zu entgehen und half scheinbar 
durch ihren Reichtum und ihre Persönlichkeit die Karriere des Herrn 
von Flotow mit zu festigen. Ihre ausgesprochen russische Gesinnung — 
ihr Sohn aus erster Ehe ist russischer Rittmeister — dürfte gerade jetzt 
ihrem Mann manchmal recht unbequem sein. Bei dem Souper, das unser 
Geschäftsträger Graf Badeni am Abend meiner Ankunft gab, entspann 
sich zwischen ihr und einem Diplomaten ein Dialog, von dem folgender 
Teil nicht uninteressant ist: 
»Was geht schließlich Rußland die serbisch-österreichische Hafen¬ 
frage an?« 
»Wenn Österreich gegen Serbien losgeht, dann marschiert ganz 
Rußland unbedingt«, sagte Frau von Flotow darauf. 
»Ja, aber Rußland ist doch nicht direkt interessiert und im Augen¬ 
blick, wo es gegen Österreich-Ungarn Krieg führen will, wird es mit der 
Revolution im Innern zu tun bekommen. Die revolutionäre Partei ist 
heute ganz anders organisiert als zur Zeit des Feldzuges gegen Japan, und 
Moskau, Odessa, Kiew und Warschau werden in hellen Flammen stehen!« 
»Sind Sie versichert,« antwortete Frau von Flotow sehr erregt — 
»es gibt unbedingt Krieg, wenn Serbien ernstlich bedroht wird, und 
wenn bei uns in Rußland die Revolution losbricht, gut, so gehen wir 
eben zu Grunde, aber — wir ziehen los!« 
Gewiß ist Frau von Flotow nicht für die russische Politik ma߬ 
gebend, aber sicher ist sie die Repräsentantin eines großen und einflu߬ 
reichen Kreises, dem sie von Geburt und ihrer späteren Stellung in 
Rußland nach angehört, und mit dem sie heute noch in stetem Kontakt 
steht. Deshalb scheint mir diese Auffassung russischer Pflichten gegen 
Serbien wichtig genug, um sie E. E. zur Kenntnis zu bringen. 
Daß auch die Deutschen auf ihre Orientpolitik nicht sehr stolz sind, 
geht aus einer Äußerung des deutschen Legationsrates Fürsten Hatzfeld, 
der auch an dem Abend anwesend war, hervor. Der Deutsche Kaiser 
sei vor kurzem zur Jagd bei seinem, Hatzfelds, Vater gewesen und hätte 
dabei u. a. bemerkt: »Seit dreißig Jahren machen wir Orientpolitik und 
glauben, sie wäre sehr gut, jetzt auf einmal sehen wir, daß sie sehr 
schlecht war!« 
Belgien ist in dem — wie man hier meint — unmittelbar bevor¬ 
stehenden Krieg zwischen Deutschland und Frankreich von ersterem eine 
wichtige Rolle zugewiesen. 
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