Volltext: 1910 - 1912 (Zweiter Band / 1922)

Ganges der Ereignisse nicht ausgeschlossen. Soweit es sich jedoch nach 
den bisherigen Geschehnissen beurteilen läßt, dürfte aber das schließliche 
.Resultat die Niederwerfung oder gründliche Zurückdrängung der Türkei 
sein; es ist daher berechtigt, diesen so wahrscheinlichen Ausgang der 
Dinge zur Basis für weitere Schlüsse zu nehmen. Unter dieser Voraus¬ 
setzung ist das Nachfolgende geschrieben. 
Bei meiner Ernennung zum Chef des Generalstabes im Herbst 1906 
hatte ich es als unerläßlich bezeichnet, daß äußere und innere Politik 
einerseits, Heeresentwicklung und konkrete Kriegsvorbereitungen ander¬ 
seits Hand in Hand gehen müssen, weil sie in den innigsten Beziehungen 
stehen, sich geradezu gegenseitig bestimmen. 
Ich habe daher auch stets die Fragen der äußeren Politik in meinen 
Pflichtenkreis gezogen und schon damals meine Ansicht dahin präzisiert, 
daß die Lösung des Balkanproblems die wichtigste Frage für die 
Monarchie ist. | 
In diesem Sinne habe ich die Annexion Bosniens und1 Herzegowinas, 
sowie die Einverleibung Serbiens als nächstes Ziel hingestellt und die 
vorherige Niederwerfung Italiens als voraussichtlichen Gegners ins Auge 
gefaßt. Als nun die Annexionskrise 1908 die Frage ins Rollen brachte, 
habe ich zur sofortigen Besitznahme Serbiens geraten und mit allen 
Mitteln die hiezu erforderlichen Vorbereitungen zu realisieren getrachtet. 
Derart war im Frühjahr 1909 alles vorgesorgt und zudem die 
politische Gesamtlage dem Unternehmen günstig. 
Im letzten Moment wurde ich jedoch im Rate überstimmt, und 
es waren insbesondere der Minister des Äußern und der Kriegsminister, 
welche von der Aktion abrieten. 
Diese unterblieb, und was ich damals vorausgesehen und voraus¬ 
gesagt habe, ist nunmehr eingetreten; die Balkanstaaten haben selbst die 
Lösung dieser Frage übernommen und führen sie anscheinend mit vollem 
Erfolg durch. 
Der Status quo, den ich immer als Nonsens bekämpft habe, den aber 
Graf Ährenthal stets als Basis seiner Politik voraussetzte, ist gebrochen, 
und es fällt wohl keinem vernünftigen Menschen ein, an dessen Wieder¬ 
herstellung zu glauben. 
Mit diesem fait accompli muß somit gerechnet werden, das heißt, 
die siegreichen Balkanstaaten werden das gewonnene Territorium unter 
sich teilen und einen Bund schließen, der sie zu einer nicht zu über¬ 
sehenden Großmacht gestaltet. 
Inwieweit die übrigen Mächte dagegen Einspruch erheben und 
inwieweit diese Einsprache Erfolg haben wird, läßt sich dermalen nicht 
absehen. 
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