Volltext: 1910 - 1912 (Zweiter Band / 1922)

Unbeschadet dieser turbulenten Vorgänge im Innern schritt jedoch 
die Entwicklung der militärischen Machtmittel weiter, im höchsten Maße 
unterstützt durch die reichen finanziellen Beihilfen, die Rußland vor allem 
von Frankreich geboten wurden. Frankreich drang mit allem Nachdruck 
auf deren Verwendung für rein militärische Zwecke. Es betraf nicht nur 
den organisatorischen Ausbau der Wehrmacht, insbesondere jener zu 
Lande, sondern auch den Bau jener sogenannten „strategischen“ Bahnen, 
die einem möglichst weit vom gelegenen Aufmarsch zur Offensive im 
Westen dienen sollten. Als daher — worauf im folgenden noch zurück 
gekommen werden wird — die Gerüchte von einer Rückverlegung des 
russischen Aufmarsches auftauchten, entstand dagegen auch sofort ein 
Sturm der Entrüstung in Frankreich. War doch dessen enger Bund mit 
Rußland erst im Jahre 1909 durch den Besuch des Zaren in Frankreich 
(Cherbourg) dokumentiert worden, unbekümmert um den Gegensatz 
zwischen Autokratie und Republik. 
Welche Auffassung man damals in Deutschland über die vor¬ 
erwähnten militärischen Vorgänge in Rußland hatte, geht aus den im 
früheren angeführten Äußerungen Kaiser Wilhelm II. und Generals von 
Moltke hervor. 
Der aggressiven Politik im Westen wieder zugewendet, war Rußland 
darauf bedacht, sich in Asien mit England auszugleichen und, insolange 
es für einen Krieg im Westen nicht voll gerüstet war, mit Österreich- 
Ungarn die durch die Annexionskrise getrübten Beziehungen wieder¬ 
herzustellen. Dem entsprach auch eine amtliche Erklärung, wonach beide 
Reiche darin übereinstimmten, den status quo auf dem Balkan und das 
Wohl der Balkanstaaten zu vertreten. 
1910 wurde auch der mit Graf Ährenthal in scharfem Konflikt 
gestandene Iswolsky durch Sasonow als Minister des Äußern ersetzt. Es 
brachte nicht nur keinen Wechsel in Rußlands Balkanpolitik, sondern es 
verschärfte die Lage dadurch, daß Iswolsky auf den so wichtigen Bot¬ 
schafterposten in Paris berufen wurde, also in die Lage kam, seine Öster¬ 
reich-Ungarn feindliche Politik mit Nachdruck zu verfolgen. 
Trotz dieser äußerlichen diplomatischen Tünche setzte Rußland 
unentwegt seine gegen Österreich-Ungarn gerichtete Agitation fort, nicht 
nur am Balkan, sondern auch in den slawischen Gebieten der Monarchie, 
die es in rühriger Propaganda auch in Ostgalizien durchwühlte. In einer 
Audienz am 1. Feber 1910 und in einer solchen am 18. Juni 1910 sprach 
ich mit Seiner Majestät hierüber, sowie über die Gerüchte betreffs Rück¬ 
verlegung des russischen Aufmarsches. Sie konnten damals mit dem 
Gebaren Japans in Beziehung gebracht werden: der Annexion Koreas, 
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