Volltext: 1910 - 1912 (Zweiter Band / 1922)

Insolange es also gelingt, den Balkan aus dem italienisch-türkischen 
Krieg auszuschalten, wird man sich auch hier — ich glaube mit 
Freuden — jeder aggressiven Politik enthalten. 
Die öffentliche Meinung und die Pläne des Herrn von Tscharikow 
bezüglich Aufrollens der Dardanellenfrage werden meiner Meinung nach 
keinen weitgehenden Einfluß auf die Ereignisse haben, und es wird Ru߬ 
land außer auf diplomatischem Wege die Erfüllung seiner Wünsche 
bezüglich der Dardanellenfrage jetzt wohl kaum anstreben. 
Heute bringen bereits die hiesigen Zeitungen die Nachricht über den 
Einmarsch russischer Truppen (aller Waffen) in Persien. 
Dieselben konzentrieren sich zunächst »am Wege nach Teheran« in 
der Stadt Kaswin. 
Gestern erfuhr ich aus englischer Quelle, daß die englische Diplomatie 
sich vergeblich bemüht habe, den Einmarsch der russischen Truppen, 
wenn auch nur um Tage zu verzögern, da man dadurch noch immer 
die diplomatische Regelung der Angelegenheit zu sichern hoffte. 
In hiesigen englischen Kreisen ist man über das russische Ultimatum, 
sowie auch über den Einmarsch sehr aufgeregt. Die weitere Heranziehung 
indisch-englischer Truppen nach Persien ist möglich. 
Die Probemobilisierungen, die im heurigen Herbst in großem 
Umfang unter Heranziehung von Landespferden und Ausrüstung der 
Trains an der preußisch-russischen Grenze stattfanden und auch in der 
deutschen Presse kommentiert wurden, waren, wie ich aus sicherer Quelle 
erfuhr, vorher durch den kaiserlich russischen Botschafter in Berlin 
bekanntgegeben worden, tun — wie es ausdrücklich hieß — keine unnötige 
Beunruhigung der öffentlichen Meinung hervorzurufen. 
Die Auflassung der Festung Warschau, die nunmehr zur Tatsache 
geworden ist, und die auch gegen die neuerliche Vorverlegung von Korps 
nach Westen spricht, werde ich in einem eigenen Bericht zu melden 
Gelegenheit haben. 
Am Schlüsse möchte ich besonders betonen, daß ich hier den Ein¬ 
druck gewonnen habe, daß die leitenden maßgebenden Kreise, weit 
entfernt, gegen die Monarchie eine aggressive Politik zu verfolgen, eher 
nicht abgeneigt wären, eine diplomatische Entente bezüglich des 
Verhaltens zur italienisch-türkischen Frage und der Ausschaltung der 
Balkanangelegenheiten zu erreichen. 
Daß man sich hiebei von russischer Seite scheut, ein allzugroßes 
Empressement bezüglich des Eingehens irgendwelcher positiver Verstän¬ 
digungen an den Tag zu legen, ist eben echt russisch und vielleicht eine 
Gewähr für die Möglichkeit einer Verständigung, wobei aber Rußland 
uns gegenüber nicht den Anschein geschäftiger Initiative erwecken möchte. 
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