Volltext: 1910 - 1912 (Zweiter Band / 1922)

„Euer Exzellenz! 
Mit gestrigem Tage hier angelangt, glaubte ich sofort den heute 
abgehenden Kurier der kaiserlich deutschen Botschaft, der auch von der 
k. u. k. Botschaft eine Sendung nach Wien mitnimmt, benützen zu sollen, 
um E. E. über die politische Lage zu berichten. 
Was die Gerüchte über die Vorverlegung von Korps der Zentral¬ 
armee betrifft, habe ich natürlich noch keine endgültigen Daten, weder 
in positivem noch in negativem Sinne zu sammeln Gelegenheit gehabt, 
doch glaube ich aus den Gesprächen, die ich mit Diplomaten und Militär¬ 
attache-Kollegen geführt habe, den berechtigten Schluß ziehen zu dürfen, 
daß diese Gerüchte nicht richtig sind. 
Wie dieselben entstanden sind, und ob vielleicht an denselben doch 
etwas Wahres sein mag, wenn auch nicht mit aggressiver Tendenz gegen 
die Monarchie, sondern vielleicht in Form einer Probemobilisierung einer¬ 
seits oder in Form von Verlegung von Teilen dieser Korps in weiter 
südlich gelegene Garnisonen — mit Rücksicht auf die in nächster Zeit 
möglichen Ereignisse in Nordpersien andererseits — kann ich jetzt noch 
nicht berichten, doch werde ich diese Frage im Auge behalten und hoffe 
E. E. bald genaueren Bericht erstatten zu können. 
Die Ereignisse des italienisch-türkischen Krieges in Tripolis sowohl, 
als auch die Gefahr allgemeiner Verwicklungen, die jetzt als Damokles¬ 
schwert über dem Balkan hängt, haben gewiß auch hier ihre Wirkungen 
auf die maßgebenden politischen Kreise sowohl, als auch auf die öffent¬ 
liche Meinung gehabt. 
Bei Beurteilung der Situation glaube ich aber, daß man in Rußland 
mehr als irgendwo sonst die Stimmung der maßgebenden leitenden Kreise 
von jener der öffentlichen Meinung streng trennen muß. 
Gemeinsam ist hiebei beiden nur die Sorge, daß die ö.-u. 
Monarchie ein Interesse haben könnte, die jetzige 
Gelegenheitauszunützen, umamBalkanweitgehende 
Erfolge zu erzielen. 
Die leitenden hiesigen Kreise und, soviel ich weiß, auch persönlich 
Seine Majestät der Kaiser wünschen und hoffen für den Augenblick 
den status quo am Balkan erhalten zu können und dieser Wunsch muß 
naturgemäß, wenn er zur Verwirklichung führen soll, jede aggressive 
Tendenz gegen die Monarchie ausschließen. 
Ob hiebei mehr das Gefühl der eigenen Schwäche, oder aber das 
Bewußtsein maßgebend waren, daß Rußland in nächster Zeit sowohl 
durch die Vorgänge in Persien, als auch vielleicht jene in der 
Mandschurei absorbiert sein dürfte, mag dahingestellt bleiben.
	        
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