Volltext: 1910 - 1912 (Zweiter Band / 1922)

Um nun die hieraus sich ergebende Lage beurteilen zu können, muß 
man sich vergegenwärtigen, daß die Türkei von ihren neuen Alliierten 
eine entschiedene Einflußnahme zu ihren Gunsten in der Tripolisaffäre, 
dann eine Garantierung des gegenwärtigen Besitzstandes erwartet und 
fordert. Bezüglich Tripolis kann es sich nur um das Zugeständnis der 
Souveränität des Sultans handeln und diesbezüglich könnten sowohl die 
Mächte der Tripleallianz als auch jene der Tripleentete einen gewissen 
Einfluß oder Druck auf Italien ausüben, wobei der Verlauf der Ereignisse 
in Afrika wesentlich in Betracht kommen muß. Von diesem Standpunkte 
betrachtet, tritt die Tripolisfrage für die neue Orientierung der türkischen 
Politik in den Hintergrund und erscheint es als wichtiger und ent¬ 
scheidender, welche Mächtegruppe überhaupt in der Lage wäre, der 
Türkei ihren gegenwärtigen Besitzstand zu verbürgen. 
Diesbezüglich ist es nun von allergrößter Bedeutung, daß sich 
Deutschland in der Marokkoaffäre offenbar als zu schwach erwiesen hat, 
um gegen die Weltmacht Englands auftreten zu können. Der Deutsche 
Kaiser, welcher sich vor einigen Jahren in Tanger als der Retter des 
Scherifenreiches und Freund und Beschützer der islamitischen Welt 
erklärte, ferners vor einigen Monaten ostentativ ein Kriegsschiff nach 
Agadir gesendet hat, mußte Marokko an Frankreich ausliefern und sich 
mit Kompensationen am Kongo abfinden lassen. Jedem Osmanen und 
Mohammedaner muß es jetzt klar sein, daß Deutschland der englischen 
Seemacht nicht gewachsen und demnach auch nicht imstande ist, den 
türkischen Besitz gegen einen eventuellen englischen Handstreich zu 
schützen. Der angebliche deutsche Schutz, unter dem sich die Osmanen 
bisher so sicher fühlten, erweist sich jetzt als eine Fiktion, und da 
Deutschland der Türkei auch keinerlei direkten Schaden verursachen kann, 
so fällt auch die Grundlage für den bisherigen deutschen Einfluß in 
Konsfantinopel in sich zusammen. 
Von den Mächten der Tripleentente kommt hauptsächlich England 
für ein Bündnis mit der Türkei in Betracht und dies umsomehr, als auch 
gerade Großbritannien dem Osmanischen Reiche am gefährlichsten werden 
kann. Besonders gegenwärtig, wo sich Deutschland entschieden inferior 
gezeigt hat, besteht für England gar kein Grund mehr, die Türkei zu 
schonen und derselben die Besitzungen am Persischen Golf noch länger 
zu lassen. Auch der Moment ist jetzt noch günstig; nach einigen 
Jahren, d. i. mit dem Fortschreiten des Baues der Bagdadbahn und mit 
der Stärkung der deutschen, ö.-u. und türkischen Flotte, wird sich die 
Lage entschieden zu Ungunsten Englands verändern. Es frägt sich nun, 
ob es unter diesen Umständen überhaupt für England vorteilhaft wäre, 
eine Allianz mit der Türkei abzuschließen und sich darauf die Hände 
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