Volltext: Graf Stefan Tisza

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Vorlesung über Lessing er mit dem größten Vergnügen 
lauscht, dem er es überdies hoch anrechnet, daß er sich des 
jungen Ungarn auch außerhalb der Alma mater annimmt und 
ihn zu seinem Mittagstisch lädt. Auch in Heidelberg hockt 
Tisza bis ein, zwei Uhr nachts bei seinen Büchern. Die wenige 
freie Zeit, die ihm übrig bleibt, verlebt er auf der Wander¬ 
schaft in den herrlichen Wäldern der Umgebung, von denen 
er im Tonfalle größten Entzückens spricht. 
In den folgenden Jahren nimmt Tisza in England und 
Frankreich kürzeren Aufenthalt. In England bewundert er 
die Lebendigkeit der eingewurzelten Lebensformen, die Soli¬ 
dität der gesellschaftlichen Gliederung und das hohe Niveau 
des Parlamentarismus, das man sich in Ungarn so mannigfach 
zum Beispiel nahm, und auf das er im. Laufe der späteren 
parlamentarischen Laufbahn auch selbst so oft Bezug nimmt. 
Gesellschaftlich faßt er hier, rasch Fuß, was sich schon aus 
dem Umstand erklärt, daß zwischen ungarischem und engli¬ 
schem Adel stets rege Wechselbeziehungen bestanden und daß 
dem jungen Tisza überdies Empfehlungen des in England 
befreundeten Vaters und auch verwandtschaftliche Bande 
zustatten kamen. Weniger erfreulich gestalten sich die Pariser 
Wochen. Hier fehlt es Tisza an dem vermittelnden Umgang, 
und auch sonst bringt er eine Voreingenommenheit gegen 
französisches Wesen mit, die von vielen Zeitgenossen geteilte 
Vorstellung von der „französischen Dekadenz“, die den über¬ 
zeugten, zum Puritanismus erzogenen Kalviner inmitten aller 
Herrlichkeiten des Pariser Treibens nicht recht auftauen läßt. 
Mit kaum vollendeten zwanzig Jahren wird Stefan 
Tisza an der Budapester Universität zum Doktor der Staats¬ 
wissenschaften promoviert. Die Dissertation, mit der er den 
Doktorgrad erlangt hat, führt den Titel „Die Theorie der 
Steuerüberwälzung1“, behandelt also ein recht verwickeltes 
volkswirtschaftliches Thema, dessen Beherrschung man einem 
Jüngling dieser Altersklasse trotz aller gediegenen Vorstudien 
nicht recht Zutrauen würde. Doch entledigt sich der Zwanzig¬ 
jährige nicht nur des wissenschaftlichen Teiles der Aufgabe 
mit überraschend gründlicher Sachkenntnis, sondern er findet 
auch den Mut, die Lehren des berühmten Nationalökonomen 
Lorenz v. Stein einer scharfen Kritik zu unterziehen und 
hiebei staatsrechtliche Ansichten zu äußern, die heute noch von 
höchst aktuellem Inhalt sind und in unveränderter Form auch 
vor dem Völkerbund wiederholt werden könnten. Tisza pole¬
	        
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