Volltext: Graf Stefan Tisza

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krönen soll, wird schließlich zur parlamentarischen Abstim¬ 
mung zugelassen. Tisza erhält dabei eine Mehrheit von über 
hundert Stimmen. Der Form nach scheint der unerquickliche 
Zwischenfall erledigt, aber seine Stachel bleiben. In Ungarn 
geht es um die Machtfrage, und wieder einmal ballt und 
bäumt sich der Widerwille gegen die Tiszasche „Diktatur“ 
zur sprungbereiten Rebellion; in Wien aber, bei Hofe, bei der 
strengkatholischen jungen Herrscherin, in Kreisen, deren 
Wohlwollen für den künftigen Tisza unerläßlich ist, gelingt 
es, die Machtfrage zu einer Glaubensfrage umzukrempeln und 
gegen den überheblichen Kalviner Stimmung zu machen, der 
mit seinen Machtgelüsten bis zum katholischen Hauptaltar 
vor dringt. 
In diese unwirtliche Krönungsatmosphäre bringt das 
Friedensangebot der Mittelmächte vom 12. Dezember nur 
vorübergehend eine einvernehmlichere Gemütsverfassung. Es 
sollte das die erste, wirkungsvolle Kundgebung des neuen 
Herrschers nach außen sein, suggeriert durch Baron Burian, 
der im Inneren bereits bedenkliche Erschöpfungs- und Sturm¬ 
zeichen wahrzunehmen wähnt, und in seiner Vermittlung auch 
durch Tisza, der keine Gelegenheit zur Dokumentierung der 
Friedfertigkeit der Mittelmächte — wenn es nur mit Maß 
und Anstand geschehen kann — ungenutzt läßt. „Wir waren 
vor dem Krieg, bei dessen Ausbruch und während dessen 
ganzen Verlaufes stets zum Frieden bereit“, — verkündet er 
im Parlament. „Nur mußten wir einen günstigen Augenblick 
für die Offenbarung unserer Friedensbereitschaft wählen, 
in dem das nicht als Schwäche aufgefaßt werden kann, zumal 
uns doch die Feinde nach dem Leben trachten. Sie können 
unsererseits auf ein ehrliches, loyales Entgegenkommen zählen.“ 
Doch drüben schnappt man nicht ein, und die hoffnungsvolle 
Aufwallung weniger Tage weicht wieder einer dumpfen 
Resignation. 
Der neue Monarch beginnt seine Herrschaft mit einer 
ergiebigen Neubesetzung der leitenden Stellen. In Österreich 
wird dem Sechswochenregime Ernst Koerbers, des Nachfolgers 
von Stürgkh, der sich für längere Dauer einzurichten schien, 
ein jähes Ende gesetzt. Der vermutliche Grund seiner Verab¬ 
schiedung besteht in dem Verfassungseid, der Koerber dem 
Herrscher auch für Österreich abzuringen versuchte, der aber 
Kaiser Karl bei seinen konstitutionellen Umgestaltungsplänen 
ein Hindernis schien, Tisza vertrug sich diesmal recht gut mit
	        
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