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einen langen literarischen Streit über den englischen Parla¬
mentarismus ein und begründet diese Umständlichkeit damit,
daß „die parlamentarische Regierungsform, . . . deren ge¬
sunde Entwicklung eine Lebensfrage für Ungarn bildet, in
England geboren worden und zur höchsten Blüte gelangt ist,
so daß es für uns von besonderem Interesse ist, wie diese
Institution in ihrer klassischen Heimat fungiert. “
Doch am aufschlußreichsten für das politische Weltbild,
das in Tiszas Seele bis zuletzt lebte, ist zweifellos ein Aufsatz,
den er in seiner Zeitschrift unter dem Titel „Nation und Ge¬
sellschaft“ aufnehmen ließ. Man ist heute von der allgemein
menschlichen Warte aus gegen prononciert nationalistische
Kundgebungen ein wenig mißtrauisch geworden, weil sie zu¬
meist den vaterländischen Begriff für die eigenen Parteigän¬
ger usurpieren, künstliche Scheidewände errichten und zwi¬
schen Staatsbürgern erster und zweiter Güte unterscheiden.
Im Gegensatz zu ihnen erscheint Tisza gewissermaßen als der
letzte Idealnationalist in Fichteschem Sinne, für den die Na¬
tion ein eigenes Lebewesen bedeutet, das Individuen der ver¬
schiedensten Kasten und Konfessionen, Rassen und Klassen
verbindet. Die Vorstellung der Nation als Rasse steht ihm also
ebenso fern wie die Idee des Klassenstaates. Er verneint beide
aufs Heftigste, und obwohl er mit richtigem Instinkt voraus¬
sieht, daß „die Geschichte in einem langsamen, aber unauf¬
haltsamen Prozeß der Bildung von Nationalstaaten zustrebt,
die auch ethnographisch einheitlich sind“, leugnet er doch,
daß die „spezifisch-nationalen Charakterzüge“ bei der Heraus¬
bildung der nationalen Einheit entscheidend wären. Den Aus¬
schlag gibt nur „das historisch bedingte Zusammengehörig¬
keitsgefühl von Einzelwesen, die ihr Glück darin erblicken,
zusammen einen starken und unabhängigen Staat zu bilden“.
Diesem einigenden Begriff der „Nation“ stellt Tisza mit einer
für ihn höchst bezeichnenden Logik den zerfließenden Begriff
der „Gesellschaft“ gegenüber. „Zwei vitale Kräfte sind es“ —
führt er aus — „durch die das menschliche Geschehen be¬
stimmt wird: die zergliedernde soziale und die vereinigende
nationale Kraft, der Klassenstandpunkt und das öffentliche
Interesse, der wirtschaftliche Egoismus und der auf die wirt¬
schaftliche Größe der gesamten Nation bedachte Altruismus.
Beide Kräfte wurzeln in der menschlichen Natur, ihr gegen¬
seitiger Kampf bewegt die Geschichte. In dekadenten Zeit¬
altern triumphiert das Klasseninteresse, aber bei Nationen,