Volltext: Milde Beiträge zur Sitten- und Kunstgeschichte (1)

Sprachliche Eigentümlichkeiten der Vulgata. 205 
druck nicht trennen mochten. So sehr der Heilige dies beklagte, 
so hielt er doch diese Anhänglichkeit an das Hergebrachte für 
so berechtigt, daß er sie möglichst zu schonen suchte. Trotz der 
klassischen Bildung daher, die er durch langjährige Studien sich 
angeeignet hatte, bequemte er sich bei den Bibelübersetzungen 
zum vulgären Ausdruck, wo derselbe im allgemeinen festen 
Gebrauche stand. Aus der nämlichen Quelle stammen bei 
Hieronymus auch einzelne Gräcismen. Den dunklen Sinn 
der Heiligen Schrift klarzustellen, war er mehr beflissen als 
Sprachfehler zu vermeiden. 
Gleichwohl verleugnete er hiebei nicht die Eleganz und die 
Kunst der Darstellung, welche ihm seine Beschäftigung mit den 
klassischen Schriftstellern verschafft hatte. Vor allem war er be— 
müht, in den einförmigen Fortschritt der kunstlosen hebräischen 
Darstellung Leben und Mannigfaltigkeit zu bringen. Diesem 
Zwecke entspricht der Periodenbau in der Uebersetzung statt der 
im Original bloß nebengeordneten Satzkonstruktion, z. B. Gen. 
13, 10 Elevatis itaque Lot oculis suis vidit für das Hebräische 
„und es erhob Lot seine Augen und sah“; 41, 14 Protinus ad 
regis imperium éeductum de carcere Joseph rc. für „und es 
sandte Pharao hin und ließ Joseph rufen, und man führte ihn 
aus dem Gefängnis“ usw. Ebendaher rühren viele erklärende 
Zusätze oder Ausfüllungen des Gedankens, welche im Original 
nicht stehen, wie Gen. 31, 32 Quod autem furti me arguis, 47 
uterque juxta proprietatem linguae suae; der Konjunktionen ergo, 
itaque, autem, vero, quoque, propter, quod. quamobrem u. a. 
nicht zu gedenken. Nach der nämlichen Rücksicht zieht er anders— 
wo den weitschweifigen und wortreichen Ausdruck des Hebräischen 
zusammen, z. B. Gen. 27, 38 Cui Esau für „und es sprach Esau 
zu seinem Vater“; 40, 5 Videruntque ambo somnium nocte una 
Juxta interpretationem congruam sibi für „da träumten beide 
einen Traum, ein jeder seinen Traum in einer Nacht, ein jeder 
nach der Bedeutung seines Traumes, der Schenk und der Bäcker 
des Königs von Aegypten, welche gefangen saßen im Gefängnis“. 
In Anwendung dieser Grundsätze hat der hl. Hieronymus 
eine Uebersetzung hergestellt, welche unbedingt als die beste unter 
allen alten Versionen, die nichtlateinischen mit inbegriffen, be— 
zeichnet werden kann. Sie unterscheidet sich von den übrigen 
alten Uebersetzungen durch das bewußte Streben, den höchsten 
Aufgaben eines Uebersetzers gerecht zu werden. Die anderen 
alten Bibelübertragungen sind von Männern verfaßt, welche nur 
von ihrer praktischen Sprachkenntnis Gebrauch machten, um den 
Inhalt der Heiligen Schrift verständlich darzustellen. Die Ueber— 
setzung des hl. Hieronymus aber ist eine wissenschaftliche Arbeit, 
welche selbständige Forschung aufs glücklichste mit der Ehrfurcht 
gegen die jüdische und die christliche Ueberlieferung vereinigt,
	        
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