Volltext: Die Lebensbeschreibung Severins als kulturgeschichtliche Quelle (2 ; 1903)

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er sagt ihm: Wenn das Öl immer mehr wird, je mehr Arme von ihm 
erhalten, dann muß auch das Gefäß, in dem sich das Öl befindet, mit 
diesem zugleich sich vergrößern. So ruft denn einer aus der staunenden 
Menge: „Lieber Herr, es wächst ja der Ölkrug und strömt über wie 
eine Quelle!“ 1 ) Wollten auch wir in der kritischen Weise des Eugippius 
an die Wunder, die er selber überliefert, herantreten, so läge es nahe, 
eines von diesen folgendermaßen zu erklären. Im 29. Kapitel weist ein 
Bär den Norikern, die mit Armengaben zu Severin wollen, den Weg, 
und der Heilige empfängt die Nahenden mit den Worten: „Tretet ein, 
denen ein Bär den Weg zum Ziele eröffnet hat!“ 2 ) Nun hören wir 
aber in Kapitel 38 von einem Mönch namens Ursus 3 ), und der Schluß ist 
kaum abzuweisen: Dieser Mönch Ursus hat die Noriker zu Severin ge 
führt, und der Doppelsinn der Begrüßungsworte Severins, „denen ein 
Ursus den Weg eröffnet hat“, bot den Anlaß zu der Wundergeschichte. 
Wohl finden sich in der vita jene Kopien biblischer Wunder, etwa 
die Heilung des Gichtbrüchigen im 6. Kapitel, wobei indessen mehrere 
neutestamentliche Wunderberichte die Vorlage gegeben haben (die 
Heilung des Gichtbrüchigen Matth. 9, Mark. 2, Luk. 5, die Erzählung 
vom Jüngling zu Nain Luk. 7, 12—15 und die Heilung des Blind 
geborenen Joh. 9, 8 und 9, 18). Allein auch bei dieser Art Wunder 
erscheint dem Eugippius ein gleichzeitiges geistiges Wunder als das 
höhere und wertvollere. Der geheilte Aussätzige von Mailand in 
Kapitel 26 wünscht „in gleicher Weise den Aussatz der Sünde wie 
den des Fleisches abzuschütteln“ 4 ), auch von dem aussätzigen Teio 
bemerkt Kapitel 34: „Wie er seinen Sinn änderte, durfte er auch seine 
Farbe ändern“ 5 ); vollends den Schwachsichtigen in Kapitel 35, der 
*) Cap. 28, 4* v unus eorum nimio stupore perterritus exclamavit: „domine mi, crescit hie 
caccabus olei et in modum fontis exundat“ (p. 36, 29). 
2 ) Cap. 29, 4: ingrediantur quibus viam, qua venirent, ursus aperuit (p. 38, 8). 
3 ) Cap. 38, 1: uni ex fratribus, nomine Urso (p. 46, 12). Die Wundergeschichten, bei 
denen Bären eine Rolle spielen, kommen in mittelalterlichen Heiligenleben auch sonst vor. 
So gibt der heilige Gallus einem Bären den Befehl, Holz zu tragen (Vita Galli c. 13 MG. 
SS. II 1—21). Diese Szene ist dargestellt auf der hinteren Elfenbeintafel des Einbandes 
zu Sintrams Evangelium longum in der Stiftsbibliothek zu St. Gallen und ist ein Werk des 
St. Galler Mönchs Tutilo (zw. 895 und 912). Die Abbildung in L. Stackes deutscher Ge 
schichte I 3 (1882) S. 231. S. auch Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittelalter 1896 3 S. 62. 
4 ) Cap. 26, 1: cupiens scilicet, ut lepram quoque peccatorum sicut carnis effugeret (p. 35, 1). 
5 ) Cap. 34, 2: dum commutat mores in melius, mutare meruit et colorem (p. 43, 3).
	        
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