Volltext: Kupferstich und Holzschnitt in vier Jahrhunderten

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Feinfühligkeit schwer hoch genug denken. Jedenfalls hat Marcanton besonders 
in der früheren Zeit fast immer nicht nach den ausgeführten Werken des 
Meisters, sondern nach vorbereitenden, von der endgiltigen Fassung der Korn- 
Positionen oft bedeutend abweichenden Zeichnungen gearbeitet. Man kann 
seine Stiche also nicht eigentlich Reproduktionen, sondern nur freie, aber ganz 
stilgemäße Übertragungen, Paraphrasen der Werke des Malers nennen. Er scheint 
mehr die Zeichnungen zu Gemälden für seine Arbeit benutzen als die Gemälde 
selber nachbilden zu wollen. 
Das erste Jahrzehnt seines Aufenthaltes in Rom bis zum Tode Raffaels 
bezeichnet den Flöhepunkt der Tätigkeit Marcantons. Besonders in den ersten 
fünf Jahren arbeitet er mit der allergrößten Liebe und Sorgfalt. Zu den 
frühesten römischen Stichen gehören, außer den schon erwähnten Kletterern 
nach Michelangelo von 1510 (B. 487) und dem Sündenfall, die Dido (B. 187), 
die Lucretia (B. 192, s. Abb.) und der bethlehemitische Kindermord (B. 18). 
Dieser Stich, der, nach den erhaltenen Zeichnungen in Windsor und im British 
Museum zu urteilen, von dem Künstler sehr selbständig aus Studien Raffaels 
zusammengestellt worden ist, scheint so starken Absatz gefunden zu haben, daß 
er ihn sehr bald noch einmal wiederholen mußte (B. 20). Man hält gewöhn 
lich das eine oder das andere Blatt für eine Kopie von der Hand eines anderen 
Stechers. Wie in anderen Fällen, z. B. bei der Madonna mit der Leiche Christi 
(B. 34 und 35), zeigt aber auch hier der eine Stich (B. 20) dem anderen (B. 18) 
gegenüber nur eine Weiterentwicklung derselben persönlichen Stecherhandschrift 
zu größerer Freiheit der Zeichnung und zu malerischer Breite. 
Ungefähr aus derselben Zeit stammen die Philosophie (B. 381), die Poesie 
(B. 382), die Madonna in Wolken (B. 47), der Apollo (B. 344), Venus und 
Amor (B. 311), Venus sich abtrocknend (B. 297) und der Puttentanz (B. 217), 
die vorzüglichsten Meisterschöpfungen Marcantons und Raffaels, in dessen Kunst 
er sich hier mit innigster Begeisterung vertieft. Die koloristische Tendenz in 
Raffaels Schaffen spiegelt sich stärker in einigen anderen, nicht minder vor 
trefflichen Stichen, wie in dem Martyrium der h. Felicitas (oder Caecilia, B. 117), 
und im „Morbetto“, der phrygischen Pest nach der Erzählung in Virgils Aeneis 
(B. 417). Eine merkwürdige Rekonstruktion nach Motiven antiker Denk 
mäler, die von Raffael herrühren soll, ist das große Parisurteil (B. 245); eine 
Komposition Raffaels ähnlicher Art ist das sogenannte „Quos ego“ (B. 352)^ 
eine Reihe von Szenen aus dem Anfänge der Aeneis. Auch das prächtige
	        
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