Volltext: Archäologie der Kunst [6, Hauptbd.] (Hauptb. / 1895)

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Klassische Kunstarchäologie. III. Angewandte Archäologie. 
wir die mannigfaltigen Redegebärden des wirklichen Lebens. An vielen 
Vasen stehen sich zwei Personen ruhig gegenüber, so dass man das 
Sprechen erraten muss. Zumeist wird nur ein Vorderarm erhoben; 
in der Diadochenzeit lieben die Maler die ersten drei Finger wie beleh 
rend erheben zu lassen; zum leidenschaftlichen Reden (z. B. wenn Hyp- 
sipyle sich rechtfertigt)werden beide Hände gebraucht. Gesenkter 
Vorderarm passt für ruhige Auseinandersetzung (z. B. beim Hermes von 
Virunum). Das Sprechen zu den Göttern oder das Beten * 2 ) erfordert, falls 
die Hände frei sind, beide Arme. Zuweilen fasst der Betende den Altar, 
was auch der Schwörende thun kann; es sei ausdrücklich bemerkt, dass 
beim Schwur die Hand nur in der Aktion des Anrufens oder Betens er 
hoben wird und dass die drei Finger spezifisch christlich sind. Verein 
zeltes können wir hier nicht anführen, müssen aber betonen, dass die 
von de Jorio 3 ) inaugurierte Methode, hinter jeder Fingerstellung etwas 
besonderes zu suchen, verfehlt ist. Ein geöffneter Mund bedeutet nicht 
das blosse Sprechen, sondern Singen (mit zurückgebogenem Kopf ver 
bunden) 4 ) oder einen Schreckensschrei. 5 ) Die übrigen Stellungen und 
Haltungen in offener wie in geschlossener Handlungsgruppe bedürfen 
kaum einer Erklärung, sondern gehen mehr die Kunstgeschichte an; 6 ) 
eine gewisse Schwierigkeit besteht nur darin, dass Bewegung und dau 
ernde Stellung nicht klar geschieden werden. Dies ist namentlich bei 
den Zeichen der Vertraulichkeit, Freundschaft und Liebe der Fall: am 
häufigsten hat die eine Person der anderen die Hand auf die Schulter ge 
legt; 7 ) einen Grad höher steht die Umschlingung des Nackens. 8 ) Ein 
trächtig gesinnte Gatten oder Freunde halten sich an der Hand (aber sie 
reichen sich nicht die Hand!). 9 ) Liebe zu einem Untergeordneten spricht 
aus der Auflegung der Hand auf den Kopf. 10 ) Intime Liebe ist in der 
Gruppierung einer sitzenden Person mit einer anderen in ihren Schoss 
zurückgelehnten ausgedrückt. 11 ) Gebärden der Liebe dagegen kommen, 
von erotischen Scenen abgesehen, selten vor. 12 ) 
402. Die begleitenden Umstände einer Handlung sind in der 
alten Kunst mehr angedeutet, als ausgeführt; es ist daher notwendig, ihre 
Abbreviaturen kennen zu lernen. Diese Kurzsprache teilen die Künstler 
jeden Ranges mit einander, z. B. bezeichnete Polygnot eine Flotte durch 
0 Overbeck, Gallerie T. 4, 3. 
2 ) Gebärden S. 174 ff. 
3 ) La mimica degli antichi investigata 
nel gestire napolitano, Neapel 1832, m. T. 
4 ) Atli. Mitt. IX T. 1; El. ceram. II 16. 
5 ) Leda auf einem pompejanischen Ge 
mälde: Zahn, 2, 20. 
6 ) Z. B. 0. Bie, Kampfgruppe u. Kämpfer 
typen in d. Antike, Berlin 1891; stereotype 
Stellung des Kämpfers gegen Übermacht: AZ. 
35. 18 A. 1; E. Cubtius, über antike Gruppen 
bildung, Westermanns Monatshefte 1881 Nov.; 
Herzog, Studien (S. 421); Sauer (S. 560). 
7 ) Stephani hat viele Beispiele im CR. 
gesammelt; als Handlung deutet die Stellung 
z. B. Helbig, Katalog Nr. 1137. 
8 ) Grabstein des Kitylos und Dermys: 
Wolters 44 (wahrscheinlich auch 47); Dios- 
kuren: Marx, AZ. 1885, 260; Aphrodite und 
Ares: Bernoulli, Aphrodite S. 163 ff.; Jüng 
ling und Frau, häufig als Griff: Michaelis, 
A. 1876, 123. Apollo und Herakles: Roschers 
Lex. 1, 2191. Übergang im Parthenonfries 
(Dionysos und Hermes). 
9 ) Häufig an Grabreliefs und sonst: Ge 
bärden S. 310 ff. 
10 ) Kaiserin und Kind, auf Kaisermün 
zen (Froehner, med. 199 == Baumeisters 
Denkm. 1325 Fig. 1478). 
11 ) Z. B. Ant. du Bosph. Cimm. 43 ; vgl. 
Lucret. 1, 32 ff.; Gebärden S. 35. 
12 ) Gebärden S. 276 f.
	        
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