Volltext: Archäologie der Kunst [6, Hauptbd.] (Hauptb. / 1895)

Kritik und Hermeneutik. (§ 401.) 
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auferlegt, wenn sie die Frauenwohnung verliessen; in der Wirklichkeit 
stellte sich nun die Sache ähnlich wie im Orient noch heutzutage, darüber 
lassen besonders zahlreiche Terrakotten keinen Zweifel. ! ) Der eigent 
lichen Kunst kam dieser Gebrauch, der zuviel von dem Gesichte verbarg, 
ungelegen, sie wählte daher in der vorpersischen Zeit den Ausweg, durch 
eine Gebärde die Verhüllung anzudeuten: Die Frauen haben entweder 
das Obergewand bereits auf dem Kopf und ziehen es nun mit einer Hand 
von der Seite herüber, oder es ist der ganze Kopf noch frei, dann zieht 
die Hand das Kleid über die Schulter herauf („Venus Genetrix“). 2 ) Später 
wurden diese konventionellen Typen etwas seltener, beziehungsweise er 
hielten sie zumeist eine besondere Bedeutung, sei es matronale Züchtig 
keit (Hera) oder Koketterie (Aphrodite). Schliesslich bedeutet die voll 
ständige Verhüllung die Absicht, Thränen zu verbergen, 3 ) und dies ist 
bei Agamemnon (S. 634) und sonst benützt. 4 ) Die Gemütsbewegungen, 
welche durch den Anblick einer Handlung hervorgerufen werden, haben 
in der Kunst keine grosse Mannigfaltigkeit. Freudige Überraschung, Er 
staunen, Verwunderung, Schrecken sind zeichnerisch nur verschiedene 
Nuancen von Bewegungen der Arme, je nachdem beide zugleich, ganz 
und hoch erhoben werden; tritt zum Schrecken noch die Furcht, so wendet 
sich die Person zur Flucht. 5 ) Eigentlicher Schmerz dagegen wird durch 
Andeutung der leidenschaftlichen Schmerzbezeugungen (Haarraufen, Schlagen 
des Kopfes, Zerreissen des Gewandes) ausgedrückt. Sorgfältige Künstler 
ziehen wohl das Gesicht auch heran, doch sind nur wenige Züge, welche 
Mund und Augenbrauen betreffen, wirklich Gemeingut geworden. Von 
den Augenbrauen sprechen wenigstens unsere Schriftquellen: Hippo- 
lytos drückt seinen sittlichen Zorn dadurch aus 6 ) und der Boreas des 
Zeuxis hat sie drohend emporgezogen. 7 ) Um den Mund spielt das finstere 
Lächeln des Kriegers, ein anderer presst ihn nach spartanischer Art zu 
sammen, 8 ) der Spottende zeigt die Zähne; 9 ) eine leise Spur davon be 
merkt man an dem Apollo von Belvedere. Die Haltung des Kopfes selbst 
gewährt nicht viel Gewinn; das hocherhobene Haupt zeigt Stolz (Apollo 
von Belvedere) oder Übermut an, 10 ) umgekehrt aber das gesenkte die 
Scham (Alkaios vor Sappho, in dem bekannten Vasenbilde), häufiger je 
doch kommt es dem Sterblichen vor der strahlenden Gottheit zu; 11 ) in 
letzterem Falle sträuben sich vor Entsetzen die Haare. 12 ) Wenn die Be 
ziehung zwischen zwei Personen in Worte gekleidet wird, so vermissen 
3 ) L. Heuzey, sur les figures des femmes 
voilees dans l’art grec, Monuments grecs 
Nr. 2, Paris 1878, m. 8 T.; Heydemann, ver 
hüllte Tänzerin, Hall. Winckelmannspr. 1879. 
m. T. 
2 ) Diese zwei Handlungen werden mei 
stens falsch beschrieben. 
3 ) Odysseus; Sen. Hercf. 1885 f.; Charito 
1, 1, 14. 11, 2. 8, 8, 14 u. A. 
4 ) Z. B. Sarkophag M. IX 2, 2. 
5 ) Z. B. Niobiden; entsetzt forteilende 
Priesterin als typische Figur: AZ. 85, 18 
A. 8. 
6 ) Agathias Anthol. II p. 657, 109. 
7 ) Eine Spur auf der Berliner Vase: 
Gerhard, etr. u. kamp. Vas. 26/9 = Roschers 
Lex. I Sp. 806. 
8 ) Grahrelief Wolters 1004. 
9 ) Sittl, Gebärden S. 98; komische 
Maske, Martha, catal. 76; Satyrköpfchen: 
Sybel, Katal. 8750. 
10 ) Oinomaos in Olympia S. 604; vgl. 
Nonn. Dion. 19, 816. 
n ) Vgl. Hymn. Ven. 157; Apollon. Rhod. 
2, 688 (1) ff. 4, 1315; Ovid. fast. 1, 148. 3, 
371. 
12 ) Mus. Ital. II T. 2 mit Text.
	        
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