Betrachtungen zu den Kämpfen in Südtirol.
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war die Armee zweiter Linie, die ursprünglich dazu bestimmt gewesen war,
beim Austritt in die Ebene gegen die dann zu erwartenden Gegenangriffe
eingesetzt zu werden, bereits vorher längst verausgabt. Trotzdem reichten
die Kräfte nicht aus, den Angriff mit Nachdruck weiterzuführen. Er kam
gar nicht so weit, wie General Cadorna erwartet hatte, als er eine Armee
zum Gegenangriff südlich des Gebirges versammelte. Etwa die Hälfte dieser
Kräfte reichte aus, das österreichisch-ungarische Vorgehen bereits im Ge-
birge zum Stehen zu bringen. Als dann der Erfolg der Vrussilow-Offen-
sive die österreichisch-ungarische Heeresleitung zwang, der Heeresgruppe
Erzherzog Eugen Kräfte wegzunehmen, wandte sich die Lage endgültig
zugunsten der Italiener.
Der Chef des italienischen General st abes hat den
sich im April immer mehr verdichtenden Nachrichten über den bevorstehenden
Angriff aus Tirol trotz ihrer offensichtlichen Zuverlässigkeit nur zögernd
Glauben geschenkt. Cr dachte an die beabsichtigte große Isonzo-Offensive
und hatte viele Gründe, die ihn an den Erfolgsaussichten eines österreichisch-
ungarischen Angriffes und an der Möglichkeit des Einsatzes erheblicher
Kräfte im Trentino zweifeln ließen. Es wird behauptet, daß die recht-
zeitigen Bitten seiner 1. Armee um Verstärkungen bei ihm gar nicht oder
nur verspätet oder begrenzt Gehör gefunden haben'), weil er eben nicht an
die österreichisch-ungarische Offensive glauben wollte, denn sein Augenmerk
war nach wie vor auf die Isonzo-Front gerichtet, wo er einen neuen, wie
er hoffte, entscheidenden Schlag plante. Seine Maßnahmen im April ge-
nügten nicht, um der Lage an der Tiroler Front gerecht zu werden. Die
späteren Anordnungen kamen gerade eben noch zur Zeit. Tatsache ist aber,
daß der reichlich spät angesetzte Gegenstoß von Teilen der 5.Armee den
Gegner nicht mehr hindern konnte, aus freiem Entschluß in eine neue selbst-
gewählte Stellung zurückzugehen. Der italienische Nachstoß traf zuerst nur
auf schwache Nachhuten, alsdann auf eine neue Linie, vor der er zum
Stehen kam.
Der etwa vom 16. Juni an einsetzende planmäßige Gegenangriff der
Italiener zeigt an Stelle straffer Führung und kräftigen, nachhaltigen
Druckes an den taktisch als wichtig erkannten Stellen häufige, schnell
erlahmende Einzelstöße, die der tapfer und rücksichtslos angreifenden
Infanterie bei anscheinend ungenügender artilleristischer Vorbereitung sehr
schwere Vlutopfer kosteten. So hat denn auch die Gegenoffensive niemals
den Charakter einer geordneten und einheitlichen großen Schlacht an-
genommen, vielmehr zur Auflösung in „Einzelaktionen mit mehr oder
') Capelle, a. a. €>., S. 247.