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Der Feldzug im Osten bis Ende Oktober 1914.
Lyck nach Goldap, zu verlegen, hatte diesen Wechsel wegen der Ereignisse
auf dem Südflügel bis zum 1. Oktober hinausgeschoben. Inzwischen hatte
sich die Gesamtlage der Armee immer schwieriger gestaltet. Der Gegner
hatte nicht nur bei Suwalki angegriffen, sondern auch bei Grajewo, wo
ihm der Abzug der Landwehr-Division Goltz nach Raigrod den Weg in
den Rücken der Armee freigegeben hatte; außerdem setzte er sich jetzt auch
gegen den Nordflügel der Armee in Bewegung. Weit überlegener Feind
schien in zusammenhängender Front im Vormarsch. Die eigene Armee
aber war mit ihren geringen Kräften in einer Breite von 80 km ausein.
andergezogen und hatte keine Reserven. Zerrieb sie sich in Teilgefechten auf
russischem Boden, so konnte jeder ernstere Rückschlag verhängnisvoll werden.
Solche Erwägungen brachten General v. Schubert schon in der Nacht zum
1. Oktober zu der Überzeugung, daß es nötig sei, die Armee allmählich
in die Lützen—Angerapp-Stellung zurückzuführen. Die Ereignisse des
1. Oktober zerstreuten auch die letzten Bedenken: Von der Landwehr-
Division Goltz (dabei auch die 70. Landwehr-Brigade) trafen ernste Nach-
richten ein; sie war am 1. Oktober früh von Raigrod nicht nach Osten auf
Augustow weiter marschiert, sondern vor einem von Süden gemeldeten
Gegner nordwärts über die Reichsgrenze nach Kallinowen ausgewichen
und meldete, sie stehe dort „gänzlich erschöpft, sowohl gefechts- wie be-
wegungsunfähig" und habe Mangel an Verpflegung und Munition.
Weiter lag die Nachricht vom Zurückweichen der 6. Landwehr-Brigade vor.
Die Lage beim General v. Morgen war noch ungeklärt. Das I. Armee-
korps, durch die vorhergegangenen Anstrengungen ermattet, focht mit Teilen
gegen Süden und war außerdem durch überlegenen Feind gebunden, der jetzt
in breiter Front von Osten zu folgen schien. Zu alledem aber meldete abends
General Otto v. Below, der Kommandierende General des I. Reservekorps,
daß er vor drohender Umfassung den Rückmarsch von Kalwaria und
Mariampol auf Wirballen antrete. Dem Verlangen des Oberkommandos,
statt dessen die 1. Reserve-Division zur Unterstützung des I. Armeekorps von
Kalwaria nach Süden anzusetzen und nur die Landwehr-Division Königs-
berg auf Wirballen zurückzunehmen, vermochte er nicht mehr zu entsprechen.
Die bei Ratfchki—Suwalki kämpfende Mitte der deutschen Armee war
im Süden wie im Norden ihres Flankenschutzes beraubt. Mit acht bis neun
Korps schien der Gegner im Vorgehen, um diese Mitte zu umfassen. Von
den eigenen Kräften aber waren vier Landwehr-Brigaden, mit denen der
Armeeführer bisher gerechnet hatte, offenbar in einem Zustande, der ihre
weitere Verwendung im fteien Felde für die nächste Zeit ausschloß. In
dieser Lage faßte General v. Schubert den Entschluß, mit dem Nückzug
in die Angerapp-Stellun g nicht mehr länger zu warten; dort