Wahl der Angriffsfront.
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Von diesen in den Vorarbeiten des Generalstabes angenommenen
Verhältnissen wich aber die tatsächliche Lage, in der sich General v. Veseler
befand, wesentlich und grundlegend ab. Zunächst standen nicht fünf
Reservekorps, sondern nur drei Divisionen für den Angriff zur Verfügung.
Außerdem war auch die operative Lage viel ungünstiger, als in dem
Angriffsentwurf vorausgesetzt war. Die Belagerung war im Westen nicht
durch andere Verbände gesichert, sondern die Velagerungstruppen hatten diese
Sicherung gegen Gent und die Küste bei Ostende—Zeebrugge selbst zu über-
nehmen. Dazu kam, daß General v. Veseler mit seinen schwachen Kräften
auch noch die rückwärtigen Verbindungen der deutschen rechten Heeresflanke
zu sichern hatte, d. h. in diesem Sonderfalle hauptsächlich die Gegend von
Löwen—Vrüsiel. Vei der Nähe der Festung Antwerpen mit dem darin
befindlichen belgischen Feldheer und angesichts der Möglichkeit, ja Wahr-
scheinlichkeit, daß die Franzosen und Engländer jetzt nach dem Erfolge an der
Marne zur See Verstärkungen heranführen würden, um Flanke und Rücken
der deutschen Heeresfront anzugreifen, war es für das Korps Veseler ge-
boten, eine Aufstellung zwischen Antwerpen und Brüssel einzunehmen. Von
hier aus konnte es alsdann auf der inneren Linie offensiv gegen die Belgier
vorgehen, falls sie versuchen sollten, westlich über Termonde auszuholen
oder in südöstlicher Richtung gegen die Bahn Löwen—Lüttich vorzustoßen.
Diese mehr operativen Erwägungen waren für die Wahl der Angriffsfront
entscheidend; belagerungstechnische oder taktische Gesichtspunkte hätten den
Angriff von Südwesten oder besser noch von Osten nahegelegt. Wenn
eine dieser Angriffsrichtungen gewählt wurde, so mußte der Raum Brüssel-
Löwen freigegeben werden. Um ihn genügend zu decken und gleichzeitig die
Festung von Osten anzugreifen, reichten die drei verfügbaren Divisionen
nicht aus. General v. Veseler verschloß sich keineswegs der Erkenntnis, daß
der Angriff von Süden nach dem Falle der äußeren Fortlinie im verteidigten
Nethe-Abschnitt neuen Widerstand und eine Stellung des Gegners finden
würde, deren natürliche Stärke dem Angreifer vielleicht größere Schwierig-
keiten bereiten würde als die künstlich geschaffene Fortlinie. Aber die Rück-
sichten auf die Gesamtlage mußten die Bedenken örtlicher und taktischer
Natur zurückdrängen. General v. Veseler entschied sich daher für den An-
griff gegen die Südostfront zwischen Großer Rethe und dem Dyle-Kanal,
d. h. gegen die Fortlinie Lierre—Koningshoyckt—Wavre Ste. Catherine—
Waelhem. Mit diesem Hauptangriff hoffte er einen Rebenangriff gegen
die Westfront verbinden zu können. Die Aussicht, von hier aus mit schwerem
Flachfeuer die Hafenanlagen zu erreichen, erschien ihm so entscheidend, daß
er trotz der Überschwemmungsgefahr wenigstens den Versuch hierzu machen
wollte.
mitftieg. V. Land, 15