22
Die Rüstungen und Stärkeverhältnisse bis zum Sommer 1914.
So war das Stärkeverhältnis für die bei Kriegsbeginn im Osten zu
lösende Aufgabe recht ungünstig:
Rußland konnte, ohne die sibirischen und turkestanischen Korps, etwa
100 Infanterie- und Reserve- und 35 Kavallerie-Divisionen einsehen, gegen
die die Mittelmächte im ganzen nur über Infanterie- und Reserve-
Divisionen (davon 13 deutsche) und 12 Kavallerie-Divisionen (davon
1 deutsche) verfügten. Dabei hatte Österreich aber gleichzeitig etwa 12
serbische Divisionen abzuwehren. Bei solcher Ungleichheit der
Zahl war es doppelt notwendig, die vorhandenen Kräfte in
der entscheidenden Richtung zusammen zu halten: Der an
Artillerie und technischen Hilfsmitteln beschränkten serbischen Armee konnte
ein Einbruch nach Ungarn an Donau und Sau verhältnismäßig leicht ver¬
wehrt werden, auch eine feindliche Offensive durch das unwegsame Berg-
land Bosniens und der Herzegowina mußte sich infolge von Nachschub¬
schwierigkeiten bald totlaufen. So schien es an der Balkangrenze sehr wohl
möglich zu sein, mit unterlegenen Kräften eine nachhaltige Verteidigung
zu führen. Die, soweit man wußte, vom General v. Conrad dafür in
Aussicht genommenen 8—9 Divisionen hielt der deutsche Generalstab schon
für einen sehr reichlichen Einsah. Je geringere Kräfte Hsterreich-Ungarn an
seiner Südgrenze festlegte, um so stärker konnte es auf dem entscheidenden
Kriegsschauplätze auftreten. Die für diesen schon seit 1909 in Aussicht ge¬
nommenen 40 Divisionen waren dem deutschen Generalstabe stets als das
Mindeste erschienen, das gegen Rußland verfügbar gemacht werden konnte
und mußte. Seit dem weiteren Anwachsen und der gesteigerten Angriffs-
bereitschaft der russischen Streitkräfte, und vollends seit dem Ausfall
Rumäniens, genügten sie kaum noch. Aber auch die letzten österreichisch¬
ungarischen Heeresverstärkungen haben in der Zahl der gegen Rußland
verfügbaren Kräfte keine irgendwie nennenswerte Besserung gebracht:
An der galizischen Front hatte General v. Conrad 1909 für den
29. „Mobilisierungstag" einschließlich der Rumänen mit 48 Divisionen
gegen 40 russische rechnen können, 1914 mußte das Verhältnis — jetzt
ohne die Rumänen — nach den Vorkriegsberechnungen des Wiener
Generalstabes x) am 30. Mobilmachungstage 40 österreichisch-ungarische
gegen 60 russische Divisionen sein!
Dieses Mißverhältnis der Zahl war aber doch nicht von Anfang an
zu erwarten. Machte Österreich-Ungarn gleichzeitig mit Rußland mobil,
dann konnte es etwa am 20. Mobilmachungstage für einen Angriff zwischen
Bug und Weichsel immer noch auf ausreichende Überlegenheit rechnen.
*) Kriegsarchiv Wien, Studie des Oberstleutnants Kißling.