Bismarck an. Prinz Heinrich VII. Reuß, 12.9. 1879
engsten Vertrauen Abschrift eines in demselben Sinne unter dem
15. August an unsern allergnädigsten Herrn ‚gerichteten Briefes*.
So bedauerlich diese mündlichen und schriftlichen Äußerungen. des
Zaren auch sind, so würde ich denselben doch keine höhere Be-
deutung beimessen, als eine vorübergehende Stimmung eines an
Widerspruch nicht gewöhnten Selbstherrschers haben kann, wenn
nicht außer diesen Ausbrüchen ernstere Maßregeln in Rußland Zwei-
fel an der Friedensliebe des Zaren erweckten. In erster Linie stehn
die ungeheuerlichen Rüstungen, die trotz finanzieller Gene sofort
nach dem Frieden begonnen haben, und die bedrohliche Dislokation
der Truppen an unsrer Grenze, Ein weiteres ernstes Symptom bilden
die publizistischen Verhetzungen, durch welche die Regierung sich
eine friedliche Politik erschwert. Auf diesen Unterlagen gewinnt der
drohende Brief vom 15. August doch die Bedeutung eines beachtens-
werten Symptoms. Das abschriftlich anliegende Telegramm des Für-
sten Hohenlohe** und andre damit übereinstimmende Nachrichten
über Italien und Frankreich sind geeignet, die russischen Freund-
schaftsversicherungen. zu beleuchten, und nötigen, sie mit Vorsicht
aufzunehmen.
Mich hat diese Entwickelung nicht überrascht; ich habe im Ver-
lauf der letzten beiden Jahre zwar keine Anstrengung unterlassen,
um die guten Beziehungen zu Österreich und Rußland zu pflegen;
nachdem aber die jedes Maß unsrer Dankbarkeit übersteigenden
Dienste, die wir Rußland im Kriege und auf dem Kongresse erwiesen
haben, wirkungslos blieben, habe ich den Augenblick mit Besorgnis
kommen sehn, wo wir zu einer Option zwischen beiden genötigt sein
würden. Immerhin habe ich nicht geglaubt, daß wir so schnell und
durch so ungerechte bedrohliche Forderungen Rußlands dazu ge-
zwungen werden würden. Können wir mit beiden Nachbarreichen
die gleiche Freundschaft nicht erhalten, so ist es notwendig, sie mit
der Seite, welche uns verbleibt, zu befestigen. Ich sah deshalb der
hiesigen Begegnung mit Graf Andrässy, wie Eurer Durchlaucht be-
kannt, mit einiger Ungeduld entgegen.
Seine Majestät der Kaiser hatte seinen ersten, von mir gebilligten
Gedanken, den Drohbrief vorläufig mit einem aufschiebenden be-
dauernden Telegramm zu beantworten, leider nach wenig Tagen
wieder aufgegeben. Dem Kaiser Alexander waren von Herrn
von Giers, der erschrocken über den Brief gewesen ist, Vorhaltungen
gemacht, auf welche er den Eindruck desselben durch telegraphische
Einladung preußischer Offiziere nach Warschau zu mildern suchte.
Dies veranlaßte unseren Herrn zu der Sendung Manteuffels, die mir
nach jenem Briefe im Range zu hoch gegriffen war. Als rein mili-
tärischen Akt konnte ich sie aber nicht ändern. Zugleich befahl mir
* Siehe Nr. 7.
** Siehe die Fußnote zu Nr. 38, S. 133.
119