2, Teil, Nr. 19
mir das Gegenteil als wahr bekannt war. Hätte eine wirkliche An-
näherung zwischen Frankreich und Rußland vorgelegen, und. der
Kaiser mit einer solchen drohen wollen, so wäre eine. wahrschein-
lichere Fassung gewählt worden. Durch den sonstigen Text des
kaiserlichen Briefes. konnte ich in meinem Verdachte. einer heim-
lichen russisch-österreichischen Verständigung, in deren Besitz der
Kaiser Alexander Euerer Majestät eine Art von Ultimatum stelle,
nur bestärkt werden. Meine Ungeduld, durch Graf Andrässy wo-
möglich eine Aufklärung zu gewinnen, mußte sich also steigern.
Für den Fall, daß diese Aufklärung keine beruhigende gewesen
wäre, waren wir, meines untertänigsten .Dafürhaltens, in der Not-
wendigkeit, einstweilen Rußland gegenüber bonne mine ä mauvais
jeu zu machen, und den Forderungen des Kaisers Alexander in den
orientalischen Sachen entgegenzukommen, weil das. Hauptmotiv, die
Schonung unserer österreichischen Beziehungen, uns nicht mehr
gehindert haben würde, der russischen Politik am Balkan jede ihr
erwünschte Gefälligkeit zu erweisen. In diesem Sinne erschien mir
die von Euerer Majestät beschlossene Sendung des Feldmarschalls
von Manteuffel.als eine Reservedeckung für den Fall, daß Andrässys
Rücktritt den Übergang der österreichischen Politik in das russische
Lager bedeuten konnte. Der kurze Termin, welchen Euere Majestät
für die Einreichung des Entwurfs der Antwort stellten, nötigte mich,
diesem . Entwurfe eine Fassung zu geben, welche ihn für den Fall
verwendbar machte, daß Österreich die Anlehnung an.Deutschland
aufgegeben hätte, und also unsere Beziehungen zu Rußland größerer
Pflege und Nachgiebigkeit von unserer Seite bedürfen sollten.
Als mein Briefentwurf schon in Euerer Majestät Händen war,
kam Graf Andrässy her, und ich gewann durch seine Haltung sehr
bald die Überzeugung, daß Österreichs Beziehungen zu Rußland und
zu uns die alten waren, und daß die österreichische Politik, erfüllt
von Sorge über die russischen Rüstungen und über die bedrohliche
Unruhe in der Politik Rußlands, ihrerseits nach Friedensbürgschaf-
ten in Europa suchte, zunächst und in Zweifel darüber, wie weit es
auf Deutschland im Fall der Not rechnen könne, bei England, Daß
damit nicht nur die Ansichten des Grafen Andrässy ausgedrückt
waren, sondern daß auch der Kaiser Franz Joseph in einer engeren
Verbindung. mit Rußland kein Heil sieht, die mit Deutschland aber
festzuhalten bereit ist, geht aus dem anliegenden Schreiben. hervor.
Wenn ich nunmehr .gewiß zu sein glaube, daß: die‘ Besorgnis
ungegründet war, welche mich veranlaßte, den Entwurf für Euerer
Majestät Antwort an den Kaiser Alexander weicher zu halten,
und der berechtigten Verstimmung Euerer Majestät. weniger
Raum zu geben, als mir politisch richtig erschienen sein würde, wenn
ich über die Österreichisch-russische Koalitionsbefürchtung schon
beruhigt gewesen wäre, so sehe ich darin doch keine Schädigung
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