Bismarck an Kaiser Wilhelm I., 5.9. 1879
Fall ist. Für heute beschränke ich mich darauf, einige Vervollstän-
digungen meiner Berichterstattung nachzuliefern, welche ich bei der
Fülle des Stoffs und dem Mangel an Arbeitskraft zurückstellen
mußte.
Die Nachricht von dem bevorstehenden Rücktritt des Grafen
Andrässy mußte in mir über die Zukunft unserer Beziehungen zu
Österreich Sorgen erwecken, über deren Tragweite ich Euerer
Majestät nicht berichten konnte, solange ich selbst über die Motive
dieses Rücktritts nicht aufgeklärt war. Meine erste Befürchtung war
die, daß Andrässy sich vor den, in der Hauptrichtung und jedenfalls
am ansehnlichsten früher durch den Erzherzog Albrecht repräsen-
tierten, militärisch-konservativen Elementen zurückzöge, auf deren
Vorhandensein Fürst Gortschakow vor einigen Jahren den Plan
gründen konnte, innerhalb des Drei-Kaiser-Bündnisses ein engeres
Bündnis Rußlands mit Österreich herzustellen, zum Nachteile des
von Frankreich ohnehin bedrohten Deutschen Reiches, Die’ mir in-
zwischen bekanntgewordenen Berichte des Generals von Schweinitz
über die schon sehr bedenklichen Äußerungen des Kaisers Alexander
gegen ihn bestätigten mich in meinen Befürchtungen. Denn es schien
mir unglaublich, daß Kaiser Alexander die Politik des einzigen
Bundesgenossen, den er bisher gehabt hatte, Preußens, durch
Drohungen mißtrauisch machen könnte, ohne sich zuvor eines ande-
ren Bundesgenossen versichert zu haben. Daß dieser andere Bundes-
genosse Frankreich sein könne, ließ sich nicht annehmen, weil bei
der gegenwärtigen französischen Regierung weder das nötige Ge-
heimnis für solche Verhandlungen, noch die Dauer der Verständi-
gung gesichert sein konnte.
Ich hoffte, als ich hier in Gastein eintraf, von dem Grafen An-
drässy, auf Grund unserer persönlichen Beziehungen, wenigstens
etwas herauszubringen, sei es eine Beruhigung, sei es eine freund-
schaftliche Warnung vor dem, was uns bedrohen konnte. Bevor ich
den Grafen Andrässy gesehen hatte, erhielt ich durch Euerer Maje-
stät Gnade das Schreiben des Kaisers Alexander*, in welchem die-
selben Drohungen klarer und verschärfter und nicht mehr bei einer
gelegentlichen, vielleicht unbedachten, mündlichen Unterhaltung,
sondern in wohlüberlegter und zweimal formulierter schriftlicher
Fassung direkt gegen Euere Majestät ausgesprochen waren. Daß die
früher so vorsichtige russische Politik sich zu dieser Maßlosigkeit
verleiten lassen sollte, ohne einen anderweit gesicherten Rückhalt
gewonnen zu haben, konnte weder mir noch irgendeinem politisch
geschulten Staatsmann in Europa glaublich erscheinen. Der Hinweis,
den der Brief des Kaisers Alexander auf die Übereinstimmung
Frankreichs mit Rußland enthielt, machte mir keinen Eindruck, da
* Siehe Nr. 7.
QQ