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Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns
Sie dürften beendet sein. In der letzten Zeit habe der Feind einige frische
Divisionen in den Raum zwischen dem Mantello und der Brenta heran¬
gezogen. Für eine weitausgreifende Unternehmung hielt FM. Boroevic
diese Verstärkungen ¡aber noch nicht für ausreichend und schloß sich im
übrigen der Meinung des GO. Wurm an, daß ein großer Angriff über
den Piave wegen des Hochwassers vorläufig nicht zu erwarten sei.
Demgegenüber glaubte das Kommando der Armeegruppe Belluno,
daß der italienische Angriff gegen unsere Piavefront unmittelbar bevor¬
stehe, vielleicht auch gegen den Abschnitt zwischen Brenta und Piave.
Sichere Anzeichen dafür lägen jedoch nur wenige vor. Die Aufklärung
sei durch den wochenlamgen Regen und durch die schlechten Sichtver¬
hältnisse im Gebirge sehr erschwert.
Das Heeresgruppenkommando Tirol beurteilte das in seinem Be¬
reiche gesteigerte Artilleriefeuer als eine Verschleierung einer am Piave
bevorstehenden Offensive der Italiener. Als das Geschützfeuer auf der
Hochfläche von Asiago noch ¡an Stärke zunahm, zeigte sich bei den
in Reserve stehenden ungarischen Truppen der k. u. k. 11. Armee eine
große Unruhe. Es war das beklemmende Gefühl, vielleicht ein paar Tage
vor der Rückkehr in die Heimat noch einmal in den Kampf treten zu
müssen. Jedermann wußte es ja schon, daß die ungarischen Regimenter aus
Tirol ¡abgezogen werden sollten. Der zum Kommandanten der Balkanstreit¬
kräfte ernannte Erzherzog Joseph erließ ¡am 23. Oktober einen Abschieds¬
befehl, dem eine Verlautbarung in ungarischer Sprache anzuschließen war,
in der der Erzherzog den ungarischen Truppen der Heeresgruppe Tirol
unter der Verpfändung seines Wortes den baldigen Abtransport in die
Heimat in Aussicht stellte, damit sie die Verteidigung der bedrohten Süd¬
grenze ihres Landes und der Ostkarpathen übernehmen könnten.
Kaiser Karl richtete am gleichen Tage (23. Oktober) einen letzten
Appell an Heer und Flotte, der lautete: ,,Soldaten! Der Tag, der Euch
Heimkehr und Frieden bringen soll, rückt näher! Die Pflichten, die Ihr
bis zu jenem Augenblick noch zu erfüllen habt, sind besonders schwer.
Eure soldatischen Tugenden, Eure Einsicht und Euer Opfermut bestim¬
men heute mehr denn je die Zukunft aller Völker der Monarchie ohne
Ausnahme und Unterschied. Eure in ungezählten Schlachten erprobte
Manneszucht, Eure Treue und der eiserne Gehorsam, der Euch zu un¬
vergleichlichen Ruhmestaten befähigte, bleiben unabänderlich der Fels,
an dem alle Angriffe und Brandungen zerschellen müssen. Die Zeit ist
erfüllt von ernsten Wirrnissen. Diese dürfen an Heer und Flotte nicht
heran. Klar und einfach wie der Eid, den Ihr vor dem Allmächtigen ab-