Volltext: Das Antlitz des Weltkrieges

Ernst Jünger ~ Das Antlitz des Weltkrieges 
will, sollten die neuen Patronen erstmalig ihre Verwendung finden, damit noch 
am anderen Tage nach hinten über ihre Brauchbarkeit Meldung erstattet werden 
konnte. 
Ich befand mich gerade im ersten Graben im Abschnitt der sechsten Kompanie, als 
aufgeregt ein Mann zu mir kam mit der Mitteilung, die neue Leuchtpatrone habe 
den Teufel in sich. Seine Beschreibung von dem Schuß, der nur wenige Meter 
weit dicht vor seine Nase gefahren sei, erschien mir so verworren, daß ich ihr nur 
wenig Wert beimaß, zumal ich den Grenadier nicht kannte und eine reichliche 
Unerfahrenheit in Kriegsdingen bei ihm mutmaßte. So begleitete ich ihn denn 
kurzerhand zum Postenstand, eben wieder einer jener Musterschulterwehren, die 
für alles andere geschaffen sind, nur nicht für den Ernst des Krieges, und ließ mir 
Pistole und Patrone geben. 
Es war eine klare, sternenvolle Herbstnacht, in der sich kein Luftzug bewegte. 
Am Himmel standen Tausende von Sternen, unbewegliche Lichter. Sie ließen eine 
unsagbare Beruhigung niederströmen, die sich alsobald dem Menschen mitteilte, 
daß er des Krieges um ihn her vergaß. Das Vorfeld, aus dem die Reihen 
spanischer Reiter deutlich hervorragten und das an dieser Stelle bis zum franzö¬ 
sischen Graben kaum vierzig Meter betrug, ruhte als eine silberstrahlende Fläche. 
Die grimmig gezackten Eisenträger, die igelartig zusammengerollten Stacheldraht¬ 
rollen aber sorgten dafür, daß die Sternennacht die harte Wahrheit, in der wir 
lebten, nicht vergessen machen konnte. Ich lud die Pistole — in achtbarer Ent¬ 
fernung, denn sie dachten an ihre früheren Versuche, beobachteten ein paar Kom¬ 
panieangehörige — ich prüfte noch einmal und sehr sorgfältig den Verschluß, ich 
richtete die Pistole vor mir auf den französischen Graben und — schoß. 
Was sich dabei ereignete, ich hätte es nicht einmal damals zusammenhängend 
beschreiben können! Im gleichen Augenblick, als ich abschoß, fuhr eine entsetzliche 
Helle um mich her, betäubendes Krachen füllte meine Ohren, irgendeine gewaltige 
Faust packte mich an der Brust und schleuderte mich zum Schühenauftritt tief in 
den Lehm der Grabensohle. Ich hatte das sichere Gefühl, daß mein Körper in 
zwei Teile gespalten sei und mein Bewußtsein nur noch dumpf über dem Zer¬ 
rissenen schwebte, um jeden Augenblick ganz zu entschwinden. Ich hörte Rufe — 
Entsetzensschreie, Menschen, die mir näher kamen, mich packten. Sehr deutlich 
spürte ich ihren liebevollen Griff, verstand die Worte, die sie sich zuriefen: 
„Das verdammte Ding muß nach rückwärts gefahren sein, ihm gerade gegen die 
Brust." Ein anderer fragte: „Ist er schwerverwundet?" 
Dann hing ich schon rechts und links mit den Armen über zwei Schultern, tastete 
mit meinen Helfern voraus und ja, mein Denken war klar wie immer. Es konnte 
wohl nichts geschehen sein. 
Darum war es auch mein erster Gedanke, dieser Meinung gegenüber den anderen 
Ausdruck zu geben. Ich sprach, das heißt, es war ein Versuch, zu sprechen. Denn 
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