Volltext: Sittengeschichte des Weltkrieges I. Band (I. / 1930)

Menschen haben — das ist nach den 
Forschungen der Psychoanalyse wohl- 
bekannt. Es besteht kein Zweifel, daß 
die Grausamkeitsakte, wie sie der Krieg 
fordert und heiligt, von jenen Personen 
bewußt oder unbewußt bejaht werden, 
die in ihrem Triebleben den sadistischen 
Grundzug beibehalten haben, für den sie 
im Frieden keine hinreichende Betäti¬ 
gung finden. Abnorme sexuelle Einstel¬ 
lung und demzufolge Grausamkeitsdelikte 
und -akte liefert uns auch der sogenannte 
Friedenszustand. Jedoch als Ansporn, 
Auslebensmöglichkeit und sozusagen 
als Prämie für die bösen Instinkte wirkt 
der Krieg als legalisierter Massenmord. 
Ohne die sexuellen Hintergründe sind 
die mannigfaltigen, sinnlosen Grausam¬ 
keitsakte des Weltkrieges nicht faßbar. 
Ein zweites Motiv, ebenfalls aus 
dem Bereich der sexuellen Kräfte, 
ist die Rückwirkung, die der Krieg 
auf das Sexualleben so Vieler ausübte. 
Auch hier spiegelt sich die Unzufriedenheit mit den Zuständen des Frie¬ 
dens, wie wir es bereits allgemeiner geschildert haben. Wie viele leben in 
Bindungen, die ihnen sexuell eine nur mangelhafte Befriedigung gewähren 
und eine Zurückdrängung der Bedürfnisse erheischen. Man denke an die 
fast vorherrschende Erscheinungsform der heutigen Ehe, die selten eine 
erotische Harmonie für die Partner bedeutet. Welche Befreiung, 
welche Erlö s u ng, diesen F esseln — wenn auch nur vor¬ 
übergehend — zu entfliehen und in der Vorstellung 
jenen erotischen Erlebnissen entgegenzusehen, die 
der Krieg verspricht! Alle, die das sexuelle Elend — 
in welcher Form immer — kannten, haben den Krieg 
als eine Verheißung auch in diesem Sinne — begrüßt. 
Und aus solchen unzähligen Unzufriedenheiten des 
Friedens ging eine seelische Haltung hervor, die für 
den Krieg förderlich war. 
Erotik, Grausamkeit, Zerstörungswut hängen in der Tiefe irgendwie mit¬ 
einander zusammen. Es bestehen nämlich gewisse Wechselbeziehungen 
zwischen den negativen Vernichtungskräften und der positiven Gewalt des 
Eros. Denn jede Unterdrückung und Vergewaltigung des Eros kann unter 
Das Gespenst des Krieges 
Zeichnung von Georg Kretzschmar 
4 Sittengeschichte 
49
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.