Volltext: Sittengeschichte des Weltkrieges I. Band (I. / 1930)

langsamen Wandlung der Moral vor dem Kriege unberührter geblieben 
waren. Dadurch wurde die moralische Umwälzung des Krieges allgemein, 
alle Klassen der Gesellschaft erfassend. In einem Aufsatz Ernst Fischers 
»Frauen der Gegenwart«15) heißt es über die Frauen der Kriegszeit: 
Man hat sie gelehrt, im Manne den Ernährer, den Verdiener, da& 
Oberhaupt der Familie zu sehen — um ihnen plötzlich die Männer weg¬ 
zunehmen und sie wider ihren Willen zu »emanzipieren«. Man hat 
ihnen »weibliche« Eigenschaften, Fraulichkeit, Unterwürfigkeit, Selbst¬ 
verleugnung, die Tugenden aller Unterdrückten und sozial Minder¬ 
wertigen beigebracht — um sie plötzlich zu zwingen, wie Männer für 
sich und die Kinder, für den Ta<r und die Zukunft zu sorgen. Die For¬ 
derungen der Frauenrechtlerinnen, 
die man verspottete und verhölmte 
— man hat sie im Namen der großen 
Zeit erfüllt und in der Erfüllung 
überboten. 
Überall tritt uns also dieselbe Er¬ 
scheinung entgegen: in der Ent¬ 
wicklung der Vorkriegs¬ 
jahre gab es Tendenzen, 
die langsam der Verwirkli¬ 
chung entgegenreiften und 
die durch den Krieg früher, 
als es sonst der Fall gewesen 
wäre, gleichsam über Nacht 
verwirklicht wurden. Wie ein 
Orkan braust der Krieg über die 
Menschheit dahin und fegt mit Mil¬ 
lionen Menschenleben längst schwan¬ 
kende, aber nicht völlig abgetragene 
Vorurteile hinweg. Die eingedämmten 
Triebe, deren sittliche Flemmungen 
schon vielfach durchbrochen sind und 
nicht mehr als heilig empfunden wer¬ 
den, machen sich in einem Sittencliaos 
Luft, das seinen Höhepunkt merk¬ 
würdigerweise nicht im Kriege, son¬ 
dern in den ersten Nachkriegsjaliren 
erreicht. Da sich die Leidenschaften 
legen und eine ruhigere Zeit die sitt¬ 
lichen Ergebnisse der Kriegsjahre, wie 
auch der noch sittengeschichtlich zu 
Das Gänschen (ein verschwundener Mädchentypus) 
Zeichnung von A. Vallee 
aus »La Vic Parisienne«, 1913 
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