langsamen Wandlung der Moral vor dem Kriege unberührter geblieben
waren. Dadurch wurde die moralische Umwälzung des Krieges allgemein,
alle Klassen der Gesellschaft erfassend. In einem Aufsatz Ernst Fischers
»Frauen der Gegenwart«15) heißt es über die Frauen der Kriegszeit:
Man hat sie gelehrt, im Manne den Ernährer, den Verdiener, da&
Oberhaupt der Familie zu sehen — um ihnen plötzlich die Männer weg¬
zunehmen und sie wider ihren Willen zu »emanzipieren«. Man hat
ihnen »weibliche« Eigenschaften, Fraulichkeit, Unterwürfigkeit, Selbst¬
verleugnung, die Tugenden aller Unterdrückten und sozial Minder¬
wertigen beigebracht — um sie plötzlich zu zwingen, wie Männer für
sich und die Kinder, für den Ta<r und die Zukunft zu sorgen. Die For¬
derungen der Frauenrechtlerinnen,
die man verspottete und verhölmte
— man hat sie im Namen der großen
Zeit erfüllt und in der Erfüllung
überboten.
Überall tritt uns also dieselbe Er¬
scheinung entgegen: in der Ent¬
wicklung der Vorkriegs¬
jahre gab es Tendenzen,
die langsam der Verwirkli¬
chung entgegenreiften und
die durch den Krieg früher,
als es sonst der Fall gewesen
wäre, gleichsam über Nacht
verwirklicht wurden. Wie ein
Orkan braust der Krieg über die
Menschheit dahin und fegt mit Mil¬
lionen Menschenleben längst schwan¬
kende, aber nicht völlig abgetragene
Vorurteile hinweg. Die eingedämmten
Triebe, deren sittliche Flemmungen
schon vielfach durchbrochen sind und
nicht mehr als heilig empfunden wer¬
den, machen sich in einem Sittencliaos
Luft, das seinen Höhepunkt merk¬
würdigerweise nicht im Kriege, son¬
dern in den ersten Nachkriegsjaliren
erreicht. Da sich die Leidenschaften
legen und eine ruhigere Zeit die sitt¬
lichen Ergebnisse der Kriegsjahre, wie
auch der noch sittengeschichtlich zu
Das Gänschen (ein verschwundener Mädchentypus)
Zeichnung von A. Vallee
aus »La Vic Parisienne«, 1913
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