Volltext: Sittengeschichte des Weltkrieges I. Band (I. / 1930)

seine Kräfte zusammennehmen muß, um sich von der Umarmung zu 
befreien und in den Keller zu fliehen. 
Die Erfahrung, daß Kriegshandlungen, Greuel und Bluttaten auf die 
Frau erotisierend wirken, wurde lange vor dem Weltkrieg gemacht und 
in diesem nur erneut bestätigt. Parallelerscheinungen zu der von Casanova 
geschilderten Hinrichtung des Damiens, der die Pariser Damen von 
den Fenstern aus in einem wahren Paroxismus erotischer Verzückung 
beiwohnten und sich an den einen ganzen Tag währenden Martern sublim¬ 
ster Art ergötzten, dürften im Krieg leicht aufzuspüren sein. Und wenn 
wir auch den Erzählungen deutscher Gefangenen, sie seien beim Transport 
in Paris und anderen französischen Städten von den Frauen beschimpft 
und mißhandelt worden, nicht ungeprüft Glauben schenken wollen, so 
gibt es immerhin zu denken, daß derlei sadistische Exzesse (Entblößen 
des Hinterteils, Bespucken der Gefangenen, Mißhandlungen mit Stöcken 
und Schirmen usw.) fast nur den Französinnen nachgesagt werden15). 
Zu beantworten ist noch die Frage, wie sich die Männer, vor allem also 
die Pfleglinge, diesen Regungen und Gelüsten der Krankenschwestern 
gegenüber verhielten. Daß dem »Voyeusentum« der Pflegerinnen auf 
Seiten der Soldaten eine ausgeprägte Schamhaftigkeit, oder, wie man in 
diesem Zusammenhänge richtiger sagen könnte, ein Mangel an korrela¬ 
tivem Exhibitionismus gegenüber¬ 
stand, haben wir schon gesehen. 
Im übrigen beurteilt die Zeit 
und die öffentliche Meinung der 
Kriegsjahre die Pflegerinnen be¬ 
zeichnenderweise fast nur unter 
dem Gesichtspunkt der Erotik, 
zugleich aber durchwegs ambiva¬ 
lent. Auf der einen Seite wird die 
verklärte Gestalt der Pflegerin in 
den Mittelpunkt eines idealisie¬ 
renden, jedoch durchaus libidi- 
nösen Kultus gestellt, auf der 
anderen findet man ein besonde¬ 
res Vergnügen daran, diese Ideal¬ 
gestalt zu besudeln, ihr in noch 
viel weitgehenderem Maße als 
es im obigen durch uns geschehen 
ist, erotische Beweggründe unter¬ 
zuschieben. Überhaupt bekommt 
man den Eindruck, daß die Pfle¬ 
gerin entweder ein Engel oder 
Aus einem Plakat für französisches Aspirin 
(Frankreich hat im Kriege versucht, dieses beliebte 
Heilmittel deutscher Herkunft durch französische 
Produkte zu ersetzen) 
Zeichnung von Zyg. Brunner 
11 Sittengeschichte 
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