Volltext: Vom Attentat in Sarajevo bis zum Eintreffen der serbischen Antwortnote in Berlin (1 / 1919)

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Nr 72 
Der Staatssekretär des Auswärtigen an den Botschafter 
in London (Privatbrief)1 
Berlin, den 18. Juli 1914 
Lieber Lichnowsky! 
Ihr Urteil über unsere Politik, wie sie Ihr serbischer Bericht* 
enthält, ist mir sets weit voll, und ich glaube, daß der Reichskanzler 
darüber ebenso denkt. Ich stehe auch nicht an, viele Ihrer Bemer¬ 
kungen als berechtigt anzuerkennen. Aber wir haben nun einmal ein 
Bündnis mit ös erreich : hic Rhodus, hic salta. Auch darüber, ob wir bei 
dem Bündnis mit dem sich immer mehr zersetzenden Staatengebilde 
an der Donau ganz auf unsere Rechnung kommen, läßt sich dis¬ 
kutieren, abe* ich s ge da mit dem Dichter — ich glaube, es war 
Bus-h—: »Wenn Dir die Gesellschaft nicht mehr paßt, such* Dir 
eine a- de e, wenn Du eine hast.« Und zu einem vollen Erfolg 
bietenden Verhältnis zu England sind wir leider noch immer nicht 
gekommen, konnten nach allem, was vorausgegangen, auch gar nicht 
dazu kommen — wenn wir überhaupt je dazu kommen können. 
Österreich, welches durch seine mangelnde Aktionskraft mehr 
und mehr Einbuße an seinem Ansehen erlitten hat, zählt schon 
jeizt kaum mehr als vollwertige Großmacht. Die Balkankrise hat 
seine Stellung noch geschwächt. Durch dieses Zurückgehen der 
oster eicl is' hen Machtstellung ist auch unsere Bündnisgruppe ent¬ 
schieden geschwächt worden. 
Österreich will sich die serbische Minierarbeit nicht mehr ge¬ 
fallen lassen, ebensowenig die fortgesetzt provokatorische Haltung 
des kleinen Nachbarn in Belgrad. — Siehe die Sprache der serbischen 
Presse — und Herrn Paschitschs. Es erkennt wohl, daß es viele Ge¬ 
legenheiten versäumt hat, und daß es jetzt noch handeln kann, in 
einigen Jahren vielleicht nicht mehr. Österreich will sich jetzt 
mit Serbien auseinandersetzen und hat uns dies mit geteilt. Während 
der ganzen Balkank ise haben wir mit Erfolg im Sinne des Friedens 
vermittelt, ohne Österreich dabei in kritischen Momenten zur Passivität 
gezwungen zu haben. Daß wir trotzdem — zu Unrecht — in Öster¬ 
reich vielfach der Flaumacherei beschuldigt sind, ist mir gleichgültig. 
Wir h ben auch jetzt Austria nicht zu seinem Entschluß getrieben. 
Wir können und dürfen aber ihm nicht in den Arm fallen. Wenn 
wir das täten, könnte Österreich (und wir selbst) uns mit Recht 
vorwerfen, daß wir ihm seine letzte Möglichkeit politischer Rehabili- 
1 Nach einer vom Fürsten Lichnowsky zur Verfügung gestellten Abschrift 
in Maschinenschrift. 
2 Siehe Nr. 30.
	        
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