Volltext: Vom Attentat in Sarajevo bis zum Eintreffen der serbischen Antwortnote in Berlin (1 / 1919)

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hat Grey auf das Tageblatt angeredet, und Grey hat nach einigem 
Zögern die Sache auch nicht ganz in Abrede gestellt. Es ist nun 
aber in Wirklichkeit noch mehr dahinter, als wohl Theodor Wolff 
selbst wissen mag und der gute Lichnowsky glauben möchte. Es 
wird tatsächlich zwischen London und Petersburg über ein Marine¬ 
abkommen verhandelt, bei dem — dies wieder im tiefsten Ver¬ 
trauen — von russischer Seite eine weitgehende militärisch-maritime 
Kooperation erstrebt wird. Zum Abschluß sind diese Verhandlungen 
trotz russischen Drängens noch nicht gelangt, zum Teil vielleicht, 
weil Grey durch die Indiskretion des Tageblatts und des offenbaren 
Widerstands bei einem Teil der liberalen Partei in England doch 
etwas zögernd geworden ist. Aber die Russen scheinen sehr zu 
drängen, und wer weiß, was sie als Gegenleistung bieten mögen. 
Grey wird sich schließlich wohl doch dem Abschluß nicht wider-' 
setzen, falls er nicht im Schoße der eigenen Partei oder des Kabinetts 
auf Widerstand stößt. Er mag sich als Pilatus vor sich selbst 
damit ausreden, daß die Verhandlungen nicht eigentlich zwischen 
den Kabinetten, sondern zwischen den Marinebehörden geführt werden. 
Ich lasse es auch dahingestellt, ob die Engländer mit der ihnen 
eigenen Casuistik mit der Reservatio mentalis verhandeln und ab¬ 
schließen, im kritischen Moment, wenn es ihnen nicht paßt, nicht 
eingreifen zu wollen, weil ein Casus foederis voraussichtlich in dem 
Abkommen nicht vorgesehen ist. Wenn nun auch das Abkommen 
nach englischer Auffassung vielleicht in der Luft schweben möchte, 
so würde es doch jedenfalls das Resultat haben, daß die aggressiven 
Tendenzen Rußlands dadurch ganz wesentlich ermutigt werden 
würden. 
Die Bedeutung, die die Angelegenheit für uns haben würde, 
brauche ich nicht näher darzulegen. An eine weitere Annäherung 
an England wäre für uns dann kaum mehr zu denken. Es erscheint 
mir daher sehr wichtig, noch einmal den Versuch zu machen, die 
Sache zum Scheitern zu bringen. Vielleicht würde, wenn die liberale 
Partei nochmals alarmiert oder ein Mitglied des Kabinetts ent¬ 
schiedene Bedenken dagegen äußern würde, Grey doch noch vor 
dem definitiven Abschluß zurückschrecken. Mein Gedanke war 
nun, ob Sie durch Ihre vielfachen intimen Beziehungen zu ma߬ 
gebenden Engländern — haben Sie nicht auch solche zu Lord Hal- 
dane? — nicht einen Warnruf über den Kanal gelangen lassen 
könnten. Ich denke mir die Sache etwa so: Sie schreiben, Sie 
hätten in Kiel erfahren, daß die Veröffentlichungen des Tageblattes 
doch ihre tatsächliche Unterlage hätten. Unsere Marinekreise wären 
darüber sehr erregt gewesen, und Sie sähen daraus einen neuen 
unabwendbaren und intensiven naval scare, neue weitgehende Flotten¬ 
vorlagen entstehen. Auch in der Wilhelmstraße hätte man sehr 
lange Gesichter gemacht und sich sorgenvoll gefragt, ob das ganze 
mühsame Werk einer englischen Annäherung nun rettungslos in die 
Brüche gehen sollte. Das Gefühl, daß der eiserne Ring um uns
	        
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